Der Nanabozo erscheint seither all jenen, „die sich verirrt haben“. In Gestalt eines Hasen. Mireille Gagné, die auf der Isle-aux- Grues geboren wurde und in Québec zur Schriftstellerin avancierte, beschreibt in ihrem Debütroman die Geschichte eines Abschieds, die sie mit einer alten indigenen Fabel über einen Schneeschuhhasen verbindet. Mireille Gagné, Jahrngang 1982, studierte Kommunikationswissenschaften und hat zuvor allem Lyrik und Kurzgeschichten veröffentlicht und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.
Ein Abschied für immer
Die Geschichte von der Schneehäsin, die die Protagonistin Diane erzählt, ist mit ihrer Freundin Eugène verbunden, die sich ein Notizbuch und eine Polaroid-Kamera mitnahm, bevor sie spurlos verschwand. Eines Tages wacht Diane nach einer Operation auf und ihr wird vom Arzt empfohlen, sich die nächsten Tage zu schonen und keinesfalls zu schonen. Doch ihre Erinnerungen an Eugène verfolgen sie und machen sie immer wacher und aktiver. So lernt sie etwa über das System der Caecotrophie, das Schneeschuhhasen das Überleben in der Wildnis garantiert. Sie spricht von einer Transformation, denn ihr Körper verändert sich nach der Operation und erst sehr langsam erfährt der Leser, warum das so ist. Der Schneeschuhhase kann jedenfalls bis zu drei Meter hüpfen und erreicht beim Laufen eine Geschwindigkeit von bis zu achtzig Kilometern pro Stunde. Ob sie jemals auch so leistungsfähig sein wird? „Sie fühlt sich wie ein Baum im Herbst, der noch alle Blätter hat, vor den großen Stürmen. Bald entblättert.“
Abschied und Aufbruch
In einer poetischen und dennoch kurzen und prägnanten Sprache erzählt Mireille Gagné die Geschichte des Lepus americanus, die bald zu ihrer eigenen wird. In kurzen Kapiteln, manchmal ganz ohne Satzzeichen über Seiten hinweg, um die Atemlosigkeit der Erzählerin zu veranschaulichen, lernen wir, wie Diane wieder in ihr Leben zurückfindet. Wie sich ihre Gedanken sortieren und die Transformation schließlich stattfindet. Eine Erzählung als Metapher? „Das war ihr Wunschziel gewesen. Nie mehr müde zu sein.“ Diane will arbeiten. Arbeiten, um zu vergessen. Denn das Unbehagen liegt in den Erinnerungen. Und nur wer rastet, hat Erinnerungen. Erinnerungen an Eugène. „Diane erlebt einen Augenblick der Fülle bei dem Gedanken endlich dem Horizont gewachsen zu sein.“ Wird der neue Aufbruch, der Abschied von ihrer Insel ihr auch die Zeit verschaffen, um sich wieder zusammenzuflicken? Der Epilog am Ende der Geschichte erklärt einiges. Aber das meiste findet sich zwischen den Zeilen. Ein jeder kann es finden. Vor allem die, „die sich verirrt haben“.
Mireille Gagné
Häsin in der Grube
Aus dem kanadischen Französisch von Birgit Leib
SALTO [262].
2021, 120 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1361-0
Wagenbach Verlag
17.-€