Irgendwie kommt es mir so vor, als könne man einen Text des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin nicht langsam lesen. Grundsätzlich nicht. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, hege jedoch den Verdacht, dass es etwas mit Sorokins Schreibgeschwindigkeit zu tun hat. Siehe auch die neun Erzählungen, die im Band “Die rote Pyramide” auf 190 Seiten versammelt sind. Im Original sind die Texte in verstreuten Medien erschienen; als die von Kiepenheuer & Witsch 2022 veröffentlichte Zusammenstellung gibt es sie nur im deutschen Sprachraum. Sorokin lässt jede Handlung zu einem anderen Zeitpunkt in der russischen Geschichte spielen – nach dem 2. Weltkrieg und während der Jahrzehnte danach, während des Kalten Krieges, im Putin-Russland.
Sorokin ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur, an Putin und seinem Apparat arbeitet sich der Schriftsteller mit allen literarischen Mitteln ab. Weder produziert er dabei plumpe Satire noch eindimensionale Polemik. Literatur ist letztlich immer die Erzählung vom Menschen: Er glaube, der Mensch sei die höchste Lebensform, sagt Sorokin, allerdings eine sehr beängstigende. Das untersucht er nicht zuletzt in den Erzählungen in “Die rote Pyramide”, etwa durch einen Ausflug in die sowjetische Vergangenheit. “Der Tag des Tschekisten”: Mark und Iwan spielen den Tschekisten abwechselnd, indem sie sich einen sowjetischen Uniformmantel umwerfen und sich von ihrem Gegenüber verhören lassen: “Hast du Provokateure eingeschleust? … Hast du Geiseln genommen? … Warst du selbst an Massenerschießungen beteiligt?” Jede Frage beantworten sie mit Ja, ob man sich schäme, verneinen sie rundheraus. Bis plötzlich das Hin und Her aufhört und Mark eine Geschichte über sexuelle Nötigung und Ausbeutung in einem Pionierlager erzählt.
Registerwechsel, Wechsel des Schauplatzes oder der Bewusstseinsebene können in Sorokins Erzählungen (und nicht nur dort) jederzeit auftreten. “Hiroshima” besteht aus fünf Szenarien, in denen jeweils zwei Menschen sich gegenseitig würgen. Fünf von ihnen erleben während des Würgeprozesses nichts Auffälliges. Die anderen fünf teilen miteinander eine Vision, in der eine nackte Frau über Asche, Ruinen und sterbende Körper schreitet und sich einiger frisch geborener Hundewelpen annimmt. In diesen Visionen zeigt Sorokin eine kollektive Angst oder eine kollektive Heimsuchung: wie im Fall der titelgebenden roten Pyramide. Jura, der Protagonist der Erzählung, kann die Pyramide – nachdem er vor Jahrzehnten zum ersten Mal von ihr erfahren hat – erst im Moment des Todes sehen. Ihre Grundfläche nimmt den gesamten Roten Platz ein. Von Lenin in Gang gesetzt, verstrahlt sie das rote Rauschen, in dem die Menschen versinken, “das rote Rauschen deckte sie alle zu”. Die Erzählung “Lila Schwäne”, übrigens eine durch die aktuellen Geschehnisse aufgefrischte Satire auf das von Waffen starrende Putin-Russland, besteht aus einem Ineinander von Träumen. Aus irgendeinem Grund sind die russischen Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt worden. Eine Abteilung Funktionär:innen aus unterschiedlichen Bereichen pilgert zu dem wundertätigsten Eremiten des Reiches, um ihn kniefällig zu bitten, er möge mit seinen Kräften die Atommacht wiederherstellen.
Sorokin zu lesen ist wie Achterbahnfahren. Man hält sich die Hand über die Augen und linst zwischen den Fingern durch – man ahnt, etwas wird kommen, aber man weiß nicht, was. Der postmoderne Schriftsteller Sorokin beherrscht viele Tonarten und Stile, er kann subtil und einlullend sein, aber auch frech bis grotesk (siehe “Der Fingernagel”). Vom Magischen Realismus über die ländliche Erzählung à la Tolstoi bis hin zu Thrillerartigem, das an Filme von Christopher Nolan denken lässt, findet man bei ihm die unterschiedlichsten Erzählweisen. Vladimir Sorokin hat für die Art, wie er das literarische Schreiben in Russland neu aufgestellt hat, viel Gegenwind ausgehalten. Während Putins erster Amtszeit verbrannten dessen Sympathisanten vom rechten Flügel öffentlich Sorokins Bücher oder warfen sie demonstrativ in ein riesiges Klosett aus Papiermaché. Sorokin zu lesen, kann man heutzutage als Ausdruck einer friedlichen Solidarität sehen. “Die rote Pyramide” bietet einen guten Einstieg in seinen literarischen Kosmos und die Geschehnisse darin.
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln