Jede Generation hat ihre Helden, ihre Idole und ihre Musik. Waren es bei den Achtundsechzigern die Beat-Musik, die Flower-Power-Revolution, die Hippie-Bewegung und der Aufstand gegen den Muff der Nazizeit, so war das in den Achtzigerjahren bereits völlig anders.
»Wir waren nicht mehr naiv, wir waren zerrissen von wilder Sehnsucht und Ängsten, wir waren Kids mit schönen Illusionen und uralte Traumkämpfer, wir waren 15 oder 50 Jahre alt, vielleicht auch jünger oder älter« schreibt Misha Schoeneberg in seinem biografischen Szeneroman »Als wir das Wunder waren«. Er schildert die Zeiten von Punk und selbstbestimmter Sexualität aus der Sicht eines Bewohners von Westberlin, der seinerzeit exotischsten Insel der Welt, und sein Buch beginnt ebenso märchenhaft mit »Es war einmal Berlin«.
Schoeneberg schildert seine große Liebe zur Stadt und zu seinem luziferischen Traumpartner Alex, mit dem er orgiastische Ausflüge in die Weiten der synthetischen Drogen unternahm. Als sie sich das erste Mal küssen, öffnet sich ihm eine neue Welt. Sie fliegen zu den Sternen, lesen Rimbaud, klauen Duftwässerchen im KaDeWe zwecks Weiterverkauf und folgen der Botschaft von A. S. Neill: Seid ungehorsam! Erfreut Euch des Lebens! Verweigert Euch jedem restriktiven System!
Die beiden verfassen Gedichte, schreiben sie auf Papier und wickeln damit kleine Portionen Haschisch ein, das sie gewinnbringend verkaufen. Das Geschäft floriert, dass Haschisch illegal war, ist ihnen scheissegal. Das »High Fly« ist ihr Marktplatz, bald investieren sie in ein Firmenfahrzeug, einen alten Opel Blitz mit Rössli-Zigarren-Reklame am Heck mit einer leistungsstarken Musikanlage. Sie reisen nach Ibiza, und alles wäre vielleicht wie ein Märchen weitergegangen, wenn Alex nicht eines Tages aufgebrochen wäre und nie wiederkam.
Misha verarbeitet die Trennung nur schwer. Er findet sich im Häuserkampf wieder, lebt in besetzten Häusern und kommt wie zufällig in Kontakt mit der in jener fernen Zeit tonangebenden Agit-Rock Band »Ton, Steine, Scherben«. Er erlebt eine Odyssee als Fahrer der Band, die er im Buch »Die Sieben Raben« nennt, steigt zum Manager der Band auf und landet schließlich in den Armen von Rio Reiser, dem Chef der »Raben«, den er im Buch Till Traven nennt. Mit ihm führt er ein Leben voller Sex, Musik und Drogen und träumt von einer besseren Welt.
Mit der Verschlüsselung der Namen schafft Schoeneberg eine künstlerische Distanz zu den Ereignissen, die ihm eine romanhafte Offenheit erlaubt und dadurch aufrichtig wirkt. So ist sein deutsches Rock´n´Roll-Märchen auch keine Biografie der Band oder ihres Sängers, sondern ein Porträt der 80er Jahre, das auch demjenigen Neues und Unerwartetes bietet, der vor Ort jene Zeit miterlebt hat.
Es tauchen die bekannten Namen der Zeit auf: Von Wolfgang Neuss bis Helga Goetze, die vor der Gedächtniskirche stand und mit Transparenten für Sex warb, sind alle dabei. Und natürlich tauchen auch die Themen der Zeit auf wie Atomkraft, Tschernobyl und das scheinbar aus dem Nichts kommende Aids, das wie eine Analogie zur Corona-Pandemie unserer Zeit wirkt.
Misha Schoneberg hat ein wundervolles Buch geschaffen, das den Zeitgeist zwischen 1980 und 1989 in wahrstem Wortsinn verdichtet. Als wäre es gestern gewesen, empfindet der Leser jene atemlose Zeit nach, die gleichzeitig unendlich lange vorüber ist und von vielen neuen Strömungen unterspült und verändert wurde. Mit dem Fall der Mauer und der Auflösung der Westberliner Inselidylle begann jedenfalls eine neue Zeitrechnung. Hier wird es neue Poeten brauchen, welche die Geschichte der Szene fortschreiben und neue Wunder beschreiben.