Der kurze Brief zum langen Abschied

Erinnerungen

Es war überhaupt die Zeit, in der sich meine kulturelle Prägung zum großen Teil vollzog. Zumindest was die Literatur betrifft. Meine Affinität zu den Büchern wurde, wie schon erwähnt, durch unseren Jugendpfarrer und durch meinen Besuch in München bei Irmgard und Toni angeregt. Ich begann die Werke bedeutender Schriftsteller zu lesen wie Kafka, Camus, Hemingway, Böll oder Grass, was mir nebenbei bemerkt, die beste Deutschnote in meiner schulischen Laufbahn bescherte. Nur weil ich mit meinem Deutschlehrer unter anderem über „die verlorene Ehre der Katharina Blum“ diskutieren konnte. Viele meiner bevorzugten Schriftsteller waren oder wurden später Literatur-Nobelpreisträger.

Apropos Literaturnobelpreisträger. Auch der erst 2019 ausgezeichnete und oft nur schwer lesbare Peter Handke gehörte dazu. Als das Nobel-Komitee seinen Namen in den Medien bekannt gab, fiel mir sofort die folgende Geschichte ein.

1972 erschien sein neuestes Buch „Der kurze Brief zum langen Abschied“, und ich wollte es unbedingt haben. Daran konnte auch die Reiberei mit meinem Favoriten Grass nichts ändern, bei der Handke den in Princeton anwesenden Gruppe-47-Dichtern „Beschreibungsimpotenz“ vorgeworfen hat und daraufhin Grass „um bessere Feinde“ gebeten hatte. Ich wollte das Buch also haben, zumal es als Taschenbuch angekündigt war und somit meinem Budget entsprach. So machte ich mich auf, die Straße runter in unsere Buchhandlung. Der „Budow“, wie wir sie einfach nur nannten, war und ist wahrscheinlich auch heute noch eine Institution in Marktredwitz. Auf Frau Budow, die Inhaberin der Buchhandlung, konnte man sich verlassen. Sie kannte mich auch sehr gut, weil ich öfter bei ihr vorbeischaute, und sie hatte immer einen Buchtipp für mich bereit. Dieses Mal wusste ich aber genau was ich wollte, das Taschenbuch von Peter Handke. Sie hatte es nicht vorrätig und fragte, ob sie es bestellen solle. Ich stimmte zu und holte es einige Tage später bei ihr ab. Sie legte es auf den Ladentisch, ein Hochglanz-Taschenbuch, schwarz, darauf der in weißen Lettern geschriebene Titel und eine in zarten Farben gemalte Gebirgslandschaft am Meer. Ich nahm es in die Hand, drehte und wendete es. Es gefiel mir sehr. Frau Budow meinte: sechzehnachtzig. Sechzehnachtzig für ein Taschenbuch? Ich hatte mir noch kurz vorher eines von Handke gekauft, auch vom Suhrkamp-Verlag, und ich bezahlte fünf D-Mark. Mir mussten die Gesichtszüge ordentlich entglitten sein. Ich wusste in diesem Augenblick gar nicht, ob ich überhaupt so viel Geld eingesteckt hatte. Und der Betrag war im Vergleich zu meinem „Gehalt“ als Fachoberschüler schon heftig. Frau Budow sah es mir sofort an und bot mir an, es hier zu lassen. Ich brauche es nicht mitzunehmen. Das ließ ich mir aber nicht nachsagen, zahlte und steckte es ein.

Was mir zum Thema Handke auch noch einfällt, ist das Spiegelinterview mit Reich-Ranicki vom 4.10.1999, wo es um den Nobelpreis für Günter Grass ging. Er meinte, Deutschland sei einfach mal wieder dran gewesen und nun solle man sich vorstellen, Martin Walser wäre der Preis zugefallen: „Das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe.“ Fand ich irgendwie amüsant.

Auszug aus einem Kapitel aus meinem biografischen Roman “August und ich”.

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die morawische Nacht

Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens

In «Die morawische Nacht» erzählt Peter Handke von der selbstkritischen Lebensbilanz eines namenlosen Ex-Schriftstellers, in der sich zwar etliche Parallelen zum Autor zeigen, die aber kaum autobiografisch gedeutet werden können. Der Buchtitel bereits weist mit der Morava als Nebenfluss der Donau auf den Balkan hin, und so ist denn der Ort der Rahmenhandlung tatsächlich ein Hausboot, auf das jener Schriftsteller zu später Stunde sieben Freunde einlädt, um ihnen, da er ja nicht mehr schreibt, nun eben mündlich von seiner gerade erst beendeten, langen Reise durch Europa zu berichten.

Überraschend befindet sich auch eine, im allegorischen Sinn schöne Frau an Bord, die bei der Bewirtung hilft, deren Beziehung zu dem als frauenfeindlich geltenden Gastgeber aber im Dunkeln bleibt. Im Laufe der Nacht erzählt nun der «ehemalige Schriftsteller» den einzeln, an getrennte Tische platzierten Freunden, alles Männer natürlich, von seiner Reise, auf der er auch einige der Zuhörer getroffen hat. Die lösen ihn dann ihrerseits zeitweise als Erzähler ab und berichten von dem gemeinsam Erlebten. Einer der Gäste unterbricht immer wieder mal als vorlauter Zwischenrufer den Erzählfluss und stellt Fragen zu unklar gebliebenen Details. Die mit einem klapprigen, uralten Bus der österreichischen Post begonnene Reise aus der serbischen Enklave, wo das Hausboot vor Anker liegt, führt zunächst nach Belgrad. Von dort geht es weiter auf die fiktive Adriainsel Cordura, mutmaßlich Krk, wo Handke einst seinen ersten Roman geschrieben hatte. Nächste Station ist eine gottverlassene Hochebene in Spanien, wo ein Kongress über Lärm und Geräusche stattfindet. In Wien gerät der Erzähler zufällig in ein nicht minder merkwürdiges ‹Festival der Mundorgelspieler› aus der ganzen Welt, danach besucht er das Grab seines Vaters im Harz und fährt nach Kärnten, seiner als «Stammgegend» bezeichneten Heimat.

Die Rahmenhandlung dieser nicht nur von der Textmasse her üppigen Erzählung dient als Vehikel für eine großangelegte, radikale Selbstprüfung des «ehemaligen Autors» in Form einer «imaginierten Reportage». Voller Ironie werden dabei in ebenso lebendigen wie präzisen Bildern, oft phantastisch anmutend, markante Figuren gezeichnet, geheimnisvolle Orte beschrieben, wundersame Begebnisse geschildert. Mit vielen Fragezeichen durchsetzt ist diese handketypisch kleinteilige Prosa in Satzschnipsel zerhackt, üppig mäandrierend und immer wieder durch Ergänzungen, Zweifel, Klarstellungen unterbrochen, meist in Klammern gesetzt. Dieses Buch ist somit auch eine fragmentarische Erzählung über das Erzählen selbst, versinnbildlicht durch die ständigen Korrekturen des bereits Gesagten als untrennbar zum Prozess des Schreibens gehörig. Und bei diesem Prozess kann eine Frau ja nur stören. Schriftsteller zu sein und Liebhaber in einer Person, das erscheint somit völlig unmöglich. Es ist zumindest kontraproduktiv und kann im schlimmsten Fall sogar in Mord und Totschlag enden. Folglich ist die Frau im Buch nur anfangs in einer Nebenrolle sichtbar, ansonsten eher kurz mal als Vision, wie auch ganz am Ende.

Es ist müßig, abzuschätzen, inwieweit diese Selbstbefragung eines Schriftstellers wirklich nur den ‹ehemaligen› oder doch auch den nobelpreis-gekrönten Autor selbst betrifft, und wenn letzteres zutrifft, inwieweit sie ernstgemeint ist. Hier wird, oft meditativ anmutend, anhand von Erinnerungen, Reflexionen und präzisen Alltags-Beobachtungen beschrieben, wie einer mit sich selbst nicht klarkommt. Einer, der sich selbst im Wege steht, der keinen an sich heranlassen will, für den das Alleinsein höchstes Glück bedeutet, ein Misanthrop par excellence. Der am Ende seiner Reise dann auch kein Hausboot mehr vorfindet, alles ist weg. Er ist nun wunschgemäß völlig mit sich allein, seine Geschichte aber haben offensichtlich die Freunde aufgeschrieben. Als (selbstironische?) Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens ein intensives Leseerlebnis!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Erzählung
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Mein Jahr in der Niemandsbucht

Nichts für «Lesefutterknechte»

Im riesigen Œuvre von Peter Handke stellt «Mein Jahr in der Niemandsbucht» mit dem Untertitel «Ein Märchen aus den neuen Zeiten» das Opus magnum dar. Das 1994 erschienene Buch ist autobiografisch geprägt, es beschäftigt sich mit dem mühsamen Selbstfindungsprozess eines Schriftstellers. Handke ist mit dem diesjährigen Nobelpreis geehrt worden «für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlichem Einfallsreichtum Randbereiche und die Spezifität menschlicher Erfahrungen ausgelotet hat». Als Enfant terrible der österreichischen Literatur ist er wegen seiner politischen – um ein auf Tolstoi gemünztes Wort von Thomas Mann zu benutzen – «Riesentölpelei», die Balkankriege betreffend, erneut heftig umstritten. Was die Spannung vor der Bekanntgabe der diesmal ja zwei Preisträger anbelangt, hat Dennis Scheck erklärt, er nehme an, «dass sich Reinhard Mey in der Nähe seines Telefons aufgehalten habe», damit süffisant auf die umstrittene Preisvergabe an Bob Dylan anspielend. Rein literarisch ist Peter Handke allerdings unumstritten, er ist geradezu eine Lichtgestalt der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur, von niemandem übertroffen. Der vorliegende, als Märchen deklarierte Band aus der Mitte seiner Schaffenszeit ist ein eindrucksvoller Beleg dafür.

Gregor Keuschnig, der fiktive Ich-Erzähler, ist auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. «Einmal in meinem Leben habe ich bis jetzt die Verwandlung erfahren», lautet der erste Satz, der verzweifelnde Held befindet sich in einer Lebens- und Schaffenskrise. In der nahen Zukunft 1997 angesiedelt, handelt es sich dabei in erster Hinsicht um ein zu schreibendes Buch, das der nahe Paris in einem Vorort allein wohnende, von seiner Frau verlassene Chronist zu schreiben gedenkt, er hat sich ein Jahr Zeit für diese Klausur über sein verfehltes Leben genommen. Als seine «Niemandsbucht» bezeichnet er das in einem Wald jenseits der Seine-Höhenzüge gelegene Tal, in dem der Österreicher sich vor Jahren ein Haus gekauft hat. In einem breit angelegten Erinnerungsprozess beschreibt der meist im Freien, an verschiedenen Plätzen im Wald sitzende Schriftsteller minutiös seine Suche nach dem Wesen der Dinge und Begebenheiten, dabei einer Ästhetik folgend, die den Prozess der Wahrnehmung als solchen im Fokus hat. Die erhabensten Momente sind für ihn die Augenblicke, in denen er sich mit dem, was er unermüdlich erschaut hat, in stillem Einklang befindet.

Im mittleren Teil dieses Buches vom Scheitern werden märchenartig die Geschichten seiner sieben auf der ganzen Welt herumstreunenden Freunde dargestellt, zu denen er auch seinen Sohn zählt. Auf die Kritik seiner Frau an seinem sehr speziellen, anspruchsvollen Schreibstil reagierte er gereizt: «Und wenn ich dann weiterwetterte gegen die Bücher, die keinen Erzähler mehr hätten, sondern einen Conférencier, gegen alle die Lesefutterknechte mit einem so aufbereiteten Stoff, dass daran mehr zu lesen bliebe, meinte sie, neidisch sei ich auch». Die Problematik dieser in sich selbst kreisenden, narrativen Form wird überreich kompensiert durch eine fast unglaubliche sprachliche Präzision, eine üppige, oft verblüffende Wortgewalt. Diese im Kern spröde Beschreibungskunst widmet sich gleichermaßen detailliert und gekonnt der Natur und den Dingen wie auch den Menschen und der Gesellschaft in ihrem Wesen, – Politik, Ökonomie oder Psyche werden dabei rigoros ausgeblendet. Letzteres aber gilt nicht für ihn selbst, als Solipsist beschäftigt er sich unablässig mit sich selbst, mit jeder noch so kleinsten Regung seines depressiv veranlagten Gemüts.

Diese Utopie des Erzählens ohne Handlung ist für den Leser ein strenges Exerzitium, in dem der langatmige Umweg das Ziel ist. Also nichts für «Lesefutterknechte», bei denen allein der Plot zählt und nicht eine Sprachkunst, welche die stimmigen Bilder im Kopf sinnlich durch Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken zu ergänzen vermag, – fürwahr eine selten anzutreffende narrative Fähigkeit!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Die Obstdiebin

Poetologischer Obstklau

Als «Letztes Epos» hat Peter Handke sein neuestes Werk «Die Obstdiebin» bezeichnet, darauf anspielend, dass seine Geschichte mit dem Untertitel «Einfache Fahrt ins Landesinnere» kein Roman sei, auch der Verlag meidet konsequent diesen Gattungsbegriff. Als Merkmale des Epos gelten in der Wissenschaft der für alle Leser gleichermaßen verbindliche Sinnhorizont, ein allgemeingültiges Weltverständnis also, sowie als literarische Themen Verlust des Naturzustands und Selbstfindung. Es geht mithin um das innerste Menschsein in dieser Geschichte, wobei Handke sich auch hier, wie üblich bei ihm, radikal von allen narrativen Konventionen gelöst hat.

«Diese Geschichte hat begonnen an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird», heißt es im ersten Satz. Ein Zeichen, wie es der Autor als Ich-Erzähler deutet, für Aufbruch, in seinem Fall dafür, sich auf den Weg zu machen aus seiner Niemandsbucht, mit unklarem Ziel. Ins Landesinnere vielleicht, der «Obstdiebin» folgend, die er von Ferne gesehen hat. Eine dreißigjährige Frau, die dort herumstreift auf ihrer dreitägigen Reise, unstet, zu Fuß zumeist, von Paris aus in die Picardie, der Region nördlich von Paris. Sie will, erfahren wir dann ziemlich spät, zu einem kleinen Familientreffen, und in gottverlassener Gegend, auf der Hochebene des Vexin, trifft sie schließlich die Eltern und den Bruder in einem bescheidenen Cateringzelt.

Es ist, wie man sehen kann, nicht leicht, so etwas wie eine Handlung aus den 559 Buchseiten heraus zu destillieren, die im Zeichen des Eskapismus stehen. Die Anklänge an Parzival sind unübersehbar, Wolfram von Eschenbach wird öfter zitiert, und so kann man die seltsame Geschichte der Obstdiebin am treffendsten denn auch als eine abenteuerliche Reiseerzählung bezeichnen, wundersam und mythisch, ein stiller Lobgesang auf das einfache, naturverbundene, arglose Leben. Und im letzten Absatz der immer wieder unbestimmt schwebend erscheinenden Geschichte steht geschrieben: «Was sie doch auf ihrer Fahrt ins Landesinnere alles erlebt hat, und wie jede Stunde dramatisch gewesen war, auch wenn sich nichts ereignete, und wie in jedem Augenblick etwas auf dem Spiel gestanden hatte … Nein seltsam. Bleibend seltsam. Ewig seltsam.»

Und in der Tat, Handkes poetische Erzählung einer surrealen Tour lebt von der Magie des Augenblicks, vom Zauber zufälliger Geschehnisse, von der Unbestimmtheit ihrer Figuren, von den Wundern der Natur. Zu denen leitmotivisch natürlich das Obst gehört, welches die mystische Heldin aber nur dann begehrt, wenn es fast unerreichbar ist, am besten als Zufallsfund auf einem bereits abgeernteten Baum oder als erste reife Frucht, immer aber als Mundraub in freier Natur. Handke benutzt diese Wanderung durch die Picardie, diese Landschaft seiner Sehnsucht, um sinnierend und reflektierend seinen ureigenen Gedankenkosmos vor dem Leser auszubreiten, um aphoristisch gekonnt und sprachmächtig ein Weltbild der Erleuchtung zu entwickeln. Ein Dichter, der behutsam gegen ein ungutes Weltgeschehen anschreibt, so als wollte er die Zeit anhalten. Was sind denn nun die Lesefrüchte in einem Epos ohne Plot, in dem nichts erklärt wird, dessen Figuren keine Psyche zu haben scheinen, die der Rede wert wäre? Sprachlich hat Handke seinen ureigenen Stil gefunden, benutzt altmodische Wendungen in langen Satzgebilden, lässt, wenn überhaupt mal, seine wundersamen Figuren eher kryptische Sätze sprechen oder, wie am Ende der Vater bei seiner Festrede, überlange pathetische Monologe. Zur Höchstform läuft der Autor auf, wenn er detailliert und wunderbar anschaulich die Natur beschreibt oder seine lebensechten, sympathischen Figuren. Es sind die kleinen Dinge mithin, und die kleinen Leute auch, die im Fokus stehen, die hier zu Literatur werden, wenn man die unbedingt erforderliche Geduld mitbringt beim Lesen und den Sinn für die erzählerischen Flickflacks eines originären Schriftstellers.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

handke-1Eine literarische Anamnese

Auffallend oft werden Schriftsteller aus Österreich der Kategorie «Enfant terrible» zugerechnet, man denke nur an Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, und auch Peter Handke gehört zu dieser aufmüpfigen Spezies. Wusste doch der noch nicht Dreißigjährige mit seinem deutlich auf Konfrontation weisenden Sprechstück «Publikumbeschimpfung», 1966 unter Claus Peymann erstmals aufgeführt, früh zu schockieren, und auch seine Erzählung «Die Angst der Tormanns beim Elfmeter» von 1970, bereits ein Jahr später von Wim Wenders verfilmt, machte ihn plötzlich einem breiten Publikum bekannt, – woran die beiden ungewöhnlichen Titel einen nicht zu unterschätzenden Anteil haben dürften. Lohnt es sich also, diese frühe Erzählung des Avantgardisten zu lesen, auch wenn sie, das sei hier gleich vorweggeschickt, mit so eindeutig Realem wie Fußball herzlich wenig zu tun hat?

Zwar ist Handkes Held ein ehemaliger Torwart, in dieser Eigenschaft allerdings tritt er nicht auf, nur sein entsprechendes Insiderwissen wird auf der letzten Seite des Buches thematisiert. Denn da erklärt Josef Bloch als Zuschauer einem anderen Mann die Finten, mit denen Tormann und Elfmeterschütze sich gegenseitig auszutricksen versuchen, um die richtige Schussrichtung vorauszuahnen. Wir lernen Bloch kennen als Monteur, der eine Geste seines Poliers bei der Jause in der Bauhütte als Entlassung missdeutet. Er streift rastlos durch Wien, besucht Restaurants und Cafés, mietet sich in einem Hotel ein, geht öfter ins Kino, sucht Kontakt zu Frauen und landet schließlich ganz unvermutet mit der Kassiererin eines Kinos im Bett. Am Morgen sieht er statt der Teeblätter Ameisen in der Teekanne. «Ich heiße Gerda, sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen.» Das stockende Gespräch zwischen ihnen irritiert ihn zunehmend. «Aber dann störte ihn alles immer mehr. Er wollte ihr antworten, brach aber ab, weil er das, was er vorhatte zu sagen, als bekannt annahm». Plötzlich, ganz unvermittelt, erwürgt er die Frau. Von der ersten Zeile an deutet Handke durch seine lakonisch knappe Erzählweise in einfach strukturierten Sätzen auf die Schizophrenie seiner Figur hin.

Blochs Wahrnehmung ist sichtlich gestört, Gegenstände und deren Bezeichnungen scheinen ihm nicht mehr zusammenzupassen, er kann Wesentliches nicht mehr von Unwichtigem trennen, sucht Streit, kann kaum noch eine sinnvolle Unterhaltung führen, ist getrieben von seinem haltlosen Bewegungsdrang. Handke schildert strikt aus der Sicht seines Helden, was dazu führt, dass der Leser gefordert ist, aus dem Erzählten jeweils das herauszudestillieren, was signifikant ist für die Geschichte. Und andererseits zu erkennen, was überhaupt nicht relevant ist, was nur die psychotisch bedingten Wahrnehmungen des Protagonisten verdeutlichen soll. Ein solcher Text ist natürlich nicht gerade leicht zu lesen, will man seinen Hintersinn erfassen, auch wenn die anspruchslos klare Sprache, ein Stilmittel, mit dem der Autor die Wirklichkeit zu reflektieren sucht, dies dem Leser suggerieren könnte. Allerdings wäre das Ganze dann völlig sinnfrei, es ist nämlich kein Krimi, was wir da lesen trotz des Mordes, es gleicht eher einer Anamnese.

In seiner verstörenden Erzählung beschreibt Peter Handke den Wirklichkeitszerfall seines Protagonisten Josef Bloch, ein ambitionierter Versuch, sich in den Kopf eines Geisteskranken hinein zu versetzen, strikt aus der verqueren Perspektive seiner von der Realität überforderten Figur zu berichten, auch wenn das Geschilderte vordergründig keinen Sinn macht. Oder doch? Nicht immer ist ja die Wirklichkeit genau das, was wir glauben, in ihr zu sehen. Die Erzählung endet jedenfalls mit den Sätzen: «Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände». Ob da der Schlüssel für das Verständnis dieses Buches liegt, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main