Atlas eines ängstlichen Mannes

Schicken Sie Ihre Phantasie auf Reisen oder testen Sie einfach nur Ihre Geografiekenntnisse, indem Sie Nadeln in eine imaginäre Weltkarte stecken. Osterinsel, China, Brasilien, Kalifornien, Marokko, Andalusien, Island, Griechenland, Wien, Neuseeland, Neu Delhi, Nepal, Bolivien, Mexiko, Juan Fernandez Archipel, Irland, Laos, Nordpol, Ontario, Kambodscha, Yokohama, Valparaiso, Pitcairn, Jemen, Sydney, Irland. Stopp! Das sind nur etwa die Hälfte der Orte und Ziele, die Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes wie auf einer geografischen Perlenkette auffädelt.

In siebzig Episoden erzählt der österreichische Autor Kurzgeschichten für Menschen, die gerne reisen und in denen die Ferne immer eine unstillbare Sehnsucht auslöst. Aber seine Zielgruppe sind ohne Zweifel auch all jene Menschen, die nicht gerne reisen, weil er es versteht, Kopfkino vom Feinsten zu entfachen. Man muss schier gar nicht in Burma oder Thailand gewesen sein, denn Ransmayr schafft es, jeden mitzunehmen. Andererseits fragt man sich als Viel- und Dauerreisender, ob man die großartigen Bilder wirklich sehen kann, wenn man niemals an griechischen, arabischen oder asiatischen Orten war?

Nach kurzem Zögern denke ich: Ja, nur eben andere, nicht weniger schöne, nicht weniger bewegende. Denn der Stil, in dem Ransmayr schreibt, ist farbenprächtiger als jeder Film und jede Reisedokumentation. Man kann gar nicht anders, als einzutauchen, wenn er am verschneiten Ufer eines Bergsees im westlichen Himalaya entlang wandert oder wenn er einer Elefantenherde im Urwald von Sri Lanka ausweicht. Seine literarischen Fähigkeiten lassen jede Leserin, jeden Leser erblassen, ziehen einen in den Bann. Vor allem, wenn man selbst gerne schreibt, lässt einen der Autor mit untherapierbaren Minderwertigkeitskomplexen zurück. Seine lyrische Ader ist Garant für 3-D-Bilder im Kopf, für seufzende Emotionen, für ein so häufiges, neidisches Kopfschütteln wie bei kaum einem anderen Autor zuvor. So etwas kann man wahrscheinlich nicht lernen. Das haben auch schon andere erkannt – Ransmayr erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis und einige mehr. Literaturkenner halten den Nobelpreis schon lange für angemessen.

Bleibt noch die Frage – warum dieser Titel? Atlas, ja, das drängt sich auf. Aber ängstlich?

Ängstlich – weil er sich ohne den Input von außen, vor allem seiner langjährigen Lebensgefährtin, vielleicht nie und nicht so häufig auf den Weg gemacht hätte. Aber vielleicht auch ängstlich, weil große Teile dieses Buches entstanden, als Ransmayr mit einer lebensbedrohlichen Diagnose konfrontiert wurde und dieses Buch vielleicht sogar schon so etwas wie sein Vermächtnis zu werden drohte, ein Rückblick auf ein beispiellos volles und erfülltes Leben.

In diesem Mann sind Erfahrungen, Abenteuer, Wahrnehmungen und Gefühle gespeichert, die jeden Quantencomputer überfordern würden. So viele Bilder, Eindrücke, an denen ein Kopf zu platzen, ein Geist zu explodieren droht. Mit großer Sicherheit muss er auch genau deshalb schreiben, sein Ventil, um all das ein Stück weit zu verarbeiten, beherrschbar zu machen.

Zum Glück, denn so können wir an seinem Leben ein wenig teilhaben, den Weg einige Abschnitte weit mitgehen. Und unseren Vorteil daraus ziehen, uns – in sehr positiver und nicht merkantiler Absicht – bereichern. Der deutsche Philosoph Odo Marquard äußerte sich einmal in diesem Sinne dazu: Wer den Erzählungen und Geschichten anderer Menschen folgt, lebt deren Leben ein Stück weit mit. Und weil das einzelne menschliche Leben eigentlich viel zu kurz ist, muss man das sogar unter allen Umständen tun, muss lesen, zuhören, mitleben. Kaum jemand kann einem so viele Leben schenken wie Christoph Ransmayr.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Die Schrecken des Eises und der Finsternis

ransmayr-1Eisige Chronik

Als literarisches Genre erfreuen sich Reiseerzählungen schon seit der Antike großer Beliebtheit, Fernweh ist das Hauptmotiv dafür. Wobei der besondere Reiz für manchen Leser wohl auch darin bestehen mag, all die Abenteuer und Strapazen solcher Reisen vom bequemen Sessel in der warmen Stube aus miterleben zu können. Der Titel «Die Schrecken des Eises und der Finsternis» von Christoph Ransmayrs frühem Roman, 1984 erschienen, weist überdeutlich auf diesen Zusammenhang hin. Der österreichische Autor ist selbst ein begeisterter Globetrotter, der in seinen Werken Fiktionales und Historisches vermischt und menschliche Grenzerfahrungen thematisiert.

Im Wesentlichen geht es in diesem Buch um die österreichisch-ungarische Polarexpedition von 1872 bis 1874 zur Erkundung der Nordostpassage, dem nördlichen Seeweg zum Pazifik, in deren Verlauf das Franz-Josef-Land entdeckt wurde. Basierend auf diverse, im Original erhaltene Berichte und Tagebücher der Teilnehmer und ergänzt um viele sachliche Informationen über die Arktis und die Geschichte ihrer Erforschung, wird in diesem Handlungsstrang reportageartig über die Geschehnisse während der dramatischen Expedition berichtet. Ausführlich werden dabei viele originale Texte zitiert, kursiv gekennzeichnet, die Verfasser sind jeweils benannt. Der sachbuchartige Eindruck wird durch ergänzenden Tabellen, Zeichnungen und Fotos noch verstärkt, die Sprache ist auffallend nüchtern auch in den Passagen, in denen immer wieder die bizarre Eislandschaft beschrieben wird in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer für Menschen lebensbedrohlichen Unwirtlichkeit.

Dieser montageartig gefügte Bericht wird abschnittsweise im Wechsel mit einem zweiten, fiktiven Handlungsstrang erzählt, der hundert Jahre später einen italienischen Abenteurer auf den Spuren der historischen Expedition in die Arktis lockt und ihn dort schließlich mit einem Hundeschlitten im Eis Spitzbergens spurlos verschwinden lässt. Zweifellos eine Farce, deren Motive allerdings undeutlich bleiben, die allenfalls als skurrile Form eines Selbstmords gedeutet werden könnten. In Ergänzung mit diesem fiktionalen Teil ist somit also tatsächlich die vom Autor deklarierte Romanform gegeben, wozu auch beiträgt, dass die historischen Texte von Ransmayr mutmaßlich redigiert wurden. An denen nämlich fällt die geradezu poetische Sprache auf, in der sie verfasst sind und die oft so gar nicht zu den extremen Situationen während ihrer Niederschrift passen will. Wie auch immer, einig sind sich Autor wie auch der historische Expeditionsleiter Weyprecht in ihrer Skepsis, was die Jagd ehrgeiziger Entdecker und Erstbezwinger nach Ruhm anbelangt, allein die wissenschaftliche Erkenntnis rechtfertige alle Mühen und Entbehrungen derartiger Expeditionen. «Die arktische Forschung sei doch zu einem sinnlosen Opferspiel verkommen und erschöpfe sich gegenwärtig in der rücksichtslosen Jagd nach neuen Breitenrekorden im Interesse der nationalen Eitelkeit», lautet ein spätes, skeptisches Fazit Weyprechts.

Die Dramatik dieses historischen Geschehens ist durchaus spannend zu lesen, sowohl was die physischen Herausforderungen einer äußerst feindlichen Umwelt in diesen nördlichen Breiten anbelangt als auch die psychischen Belastungen, denen zwei Dutzend Menschen in einer fast zweijährigen Isolation ausgesetzt sind. Eine ereignislose, entbehrungsreiche Zeit, in der gleichwohl die militärische Hierarchie aufrecht erhalten bleiben muss. Der stilistisch anspruchlose Text ist leicht lesbar und hat mich anfangs in den Schilderungen der menschenfeindlichen Natur überzeugt, die dann leider durch allzu häufige Wiederholungen aber bald langweilig werden. Herzlich wenig konnte ich dem modernen Handlungsstrang abgewinnen, er stört nur den Lesefluss, ohne die Erzählung in irgendeiner Weise wirklich zu bereichern. Ein zwiespältiges Leseerlebnis also, sachlich informativ, den Horizont weitend, in der literarischen Umsetzung aber wenig überzeugend.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Cox oder Der Lauf der Zeit

ransmayr-2Zweckfreier Ästhetizismus

Vergleicht man Christoph Ransmayrs ersten mit seinem neuesten, fünften Roman, der den Titel «Cox oder der Lauf der Zeit» trägt, dann kommt auch gleich die Zeit ins Spiel, denn es sind mehr als drei Jahrzehnte, die zwischen ihrer Veröffentlichung liegen. Man findet trotz dieser beachtlichen Zeitspanne Bestandteile einer für diesen Autor typischen Erzählweise: beide Romane schildern ein Geschehen an fernen, uns fremd erscheinenden, fast schon mystischen Handlungsorten, sie sind zeitlich weitab der Jetztzeit angesiedelt und verbinden beide historisch Verbürgtes mit fantasievoll Erdachtem. Und ihre Protagonisten eint ein Hang zur Weltentrücktheit, sie befinden sich in einer Sinnkrise, sind auf der Flucht vor einer Realität, deren Unbill sie in der Ferne zu entkommen hoffen.

Der weltberühmte englische Uhrmacher Cox folgt Mitte des 18ten Jahrhunderts einem Ruf an den Hof des chinesischen Kaisers Qiánlóng, um vor Ort ganz besondere Uhren für den damals mächtigsten Mann der Welt zu bauen. Den Gottkaiser verlangt es nach Uhren, die in der Lage sind, die unterschiedlich schnell erscheinenden Zeitläufte der Kindheit, der Liebe und des Sterbens adäquat anzuzeigen. Nachdem drei entsprechende Kreationen des Meisters die hochgespannten Erwartungen des «Herrn der Zehntausend Jahre» erfüllen, erhalten Cox und seine Mitarbeiter schließlich von ihm den Auftrag, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit zu bauen, ein Perpetuum mobile mithin. Ein vermessenes Unterfangen, für das Cox eine perfekte Lösung findet, die letztendlich dann auch dem Kaiser seine Endlichkeit vor Augen führt, auch er ist nicht zeitlos. Denn selbst die ihm ehrfurchtsvoll – in der maßlosen Verehrung seines Hofstaates – zugedachten zehntausend Jahre sind nur ein Wimpernschlag in der Ewigkeit der Zeit.

In einer dem höfischen Zeremoniell angepassten, blumenreichen Sprache erzählt Ransmayr eine fantastische Geschichte, zu der ihn ein Museumsbesuch in Peking inspiriert habe. Bewundernswert ist die Detailfülle, mit der er den Leser penibel in die Uhrmacherkunst einführt, mit der er die von ihm selbst erdachten, wundersam anmutenden, feinmechanischen Kreationen minutiös beschreibt, um die sich scheinbar alles dreht. Tatsächlich aber geht es hier um Sinnsuche, um die Endlichkeit des Seins, letztlich um den Tod also, Ursache und Fundament sämtlicher Religionen. Sehr farbenprächtig ist auch die Schilderung des höfischen Lebens in der Verbotenen Stadt, zu dessen sagenhafter Glorie die eingestreuten Szenen auf dem Blutgerüst einen brutalen Kontrast bilden, der den Leser aus himmlischen Sphären in die Wirklichkeit – und Endlichkeit – zurückholt. Denn die Zeitmesser stehen als Metapher für die zeitliche Begrenztheit alles Irdischen, die der Mensch so gern verdrängt, wenn es um ihn selbst geht. Proust hat in seiner «Recherche» bekanntlich resümiert, man müsse einen Roman schreiben, um die verlorene Zeit zu finden, Ransmayrs Versuch deutet in die gleiche Richtung.

Geradezu verstörend war für mich die pathetische, effekthascherische Sprache, die hier zuweilen hart an Kitsch grenzende Satzgebilde hervorbringt, deren Aussagewert gegen Null tendiert. «Es war Selbstmord, eine Uhr für die Ewigkeit zu bauen, eine Uhr, die ihre Stunden aus dem Inneren der Zeit in die Zeitlosigkeit schlug». Man staunt als Leser darüber mindestens ebenso wie über die fantastischen Uhrwerke selbst, aber auch über das ausufernd beschriebene Hofzeremoniell, von dem immer wieder langatmig und völlig humorfrei berichtet wird. Beim Lesen stellt sich da trotz aller Wortgewalt allmählich gepflegte Langeweile ein, weicht das anfängliche Staunen dem Eindruck, hier werde poetisch hübsch verpackt philosophisch Belangloses behandelt, ein zweckfreier Ästhetizismus, bei dem Zeit und Vergänglichkeit zur Nebensache geraten. Bei allen Meriten des Autors, Etiketten wie «Weltliteratur» oder «Der größte Gegenwartsautor in deutscher Sprache» auf dem Buchdeckel sind nichts als platte Werbesprüche.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main