Risse

Literarische Zumutung

Das neue Buch «Risse» von Angelika Klüssendorf trägt nur auf dem Vorsatzblatt verschämt die Bezeichnung Roman, nicht aber auf dem Cover, wo es ja verkaufsfördernd wäre. Der Text besteht aus zehn Kurzgeschichten, die schon 2004 unter dem Titel «Aus allen Himmeln» erschienen sind. Mit gleicher Thematik erschien 2013 der erfolgreiche Debütroman «Mädchen» als Teil einer Trilogie. Es geht in diesen allesamt autofiktionalen Werken um die verheerenden Auswirkungen eines lieblosen und teilnahmslosen, aber auch chaotischen, sadistischen Elternhauses auf die Entwicklung der in solch prekären Milieus aufwachsenden Kinder. «Kein Wohlfühlroman», ist meine Buchbesprechung von «Das Mädchen» betitelt, und das gilt für das jetzt vorliegende neue Buch der Autorin gleichermaßen, nichts für literarische Hedonisten also!

Entsprechend den zehn Kurzgeschichten als Grundlage ist «Risse» in zehn Kapitel aufgeteilt, in denen die einzelnen Motive ihres Erzählbandes über ein von Armut geprägtes Kinderleben in ein Ganzes übertragen wurde. Ergänzend sind jeweils kursiv gesetzte Kommentare der Autorin als Ich-Erzählerin zwischen die Kapitel eingefügt, die ihre Arbeit an dem Buch selbst verdeutlichen sollen. Ihre in der DDR der sechziger und siebziger Jahre angesiedelten Kurzgeschichten sind von erschütternden Szenen der seelischer Grausamkeit an dem Mädchen geprägt, die ihre teilnahmslosen Eltern, manchmal sogar mit sadistischen Übergriffen, an ihr und ihrer Schwester begehen. Die nur ganz selten mal beim Namen genannte, bedauernswerte Heldin schwankt zwischen depressiver Erduldung und verzweifeltem Aufbegehren, um die eigenen Eltern «auszuhalten».

Einzig der große Kirschbaum im Garten ist zuweilen ein Trost für sie. Es ist dieser Kirschbaum, der als Leitmotiv fungiert und ihre Sehnsucht nach Geborgenheit symbolisiert. Auf seine Weise wirkt er tröstend für das Mädchen, verheißt ihm Verlässlichkeit und Beständigkeit trotz all der traumatischen Zumutungen, denen es ausgesetzt ist. Für den Leser stellt der Kirschbaum außerdem so etwas wie einen hilfreichen roten Faden dar im Seelenchaos des emotionslos und allzu sprunghaft erzählten, unübersichtlichen Plots. Aber auch die Beschäftigung mit Büchern liefert dem Mädchen Halt, sie taucht dann wenigstens zeitweise in andere Welten ein. Und dem Lesen folgt quasi automatisch auch das Schreiben, aus dem sich einst mit den Kurzgeschichten ihre erste Veröffentlichung ergeben hatte. Die autofiktionalen Geschichten und der zu ihnen hinführende Schreibprozess sind hier ineinander verwoben. Eine geradezu klassische Konstellation vom Buch-im-Buch also, die, wie ja auch die Autofiktion, zunehmend populärer wird im Genre der Belletristik, – und geradezu eine Domäne weiblicher Wortakrobaten zu sein scheint!

Von sexuellen Übergriffen wird in Angelika Klüssendorfs Geschichten berichtet, von ersten Versuchen der Selbstbefriedigung, von einer überraschenden ersten Menstruation des Mädchens. Ausgerechnet auf der Beerdigung des Vaters läuft ihr das Blut am Bein herunter. Es gibt keine Körperflüssigkeit, von der hier nicht die Rede ist, Blut, Eiter, Schweiß, Sperma, Rotz, Urin, Kot. Erzählt wird auch von einer Entjungferung in den Dünen oder von den Anstiftungen der Mutter zum Ladendiebstahl. Das geht so weit, dass die Mutter ihrer Tochter einen «Diebstahlzettel» schreibt, auf dem sie genau notiert hat, was das Mädchen wo für sie stehlen soll. Und natürlich ist bei allem Schnaps im Spiel, die Mutter ist, wie der Vater auch, alkoholkrank. Der Vater hat zudem schon viele Suizidversuche hinter sich, nun versucht er es mit Gas in der Küche. Vater und Tochter liegen nebeneinander auf dem Küchenboden, als die Mutter hinzukommt. Das Mädchen wird im Krankenhaus gerettet, für den Vater kommt jede Hilfe zu spät. Ob Verdrängtes ans Tageslicht befördert wurde mit der späten «Selbstbefragung» der Autorin, das kann nur sie selbst beurteilen. Viele Kritiker aber schütteln nur den Kopf angesichts dieser literarischen Zumutung!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das Mädchen

kluessendorf-1Kein Wohlfühl-Roman

«Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig». Ob schon im berühmten ersten Satz die ganze Geschichte steckt, wie Edgar Allan Poe als bedeutender Literaturtheoretiker des Neunzehnten Jahrhunderts konstatierte, sei dahingestellt, aber dieser erste Satz hier führt uns gleich äußerst brutal hinein in das bedrückende Leben eines heranwachsenden Mädchens. Und das Foto auf dem Buchumschlag passt so gar nicht dazu, aber auch der Klappentext, in dem von trockenem Humor in der Prosa der Autorin die Rede ist, führt uns in die Irre, denn Humor ist an keiner einzigen Stelle dieses Romans zu finden. Im Gegenteil! Beklemmend, düster, brutal geradezu werden etwa fünf Jahre im Leben der namenlos bleibenden Protagonistin geschildert, der Zeitraum der Pubertät dieses bedauernswerten Menschenkindes. Eine der eher seltenen Geschichten aus dem Prekariat der DDR, die aber ebenso stimmig in der Bundesrepublik hätte angesiedelt sein können, Politik ist kein Thema also, auch wenn immer wieder mal ein Foto von Honecker an der Wand hängt. Der Handlungsort deutet vielmehr auf die biografische Nähe der Verfasserin zu ihrer Figur hin, in der Berufswahl Zootechniker/Mechanisator am Ende des Romans stimmen beide darin jedenfalls überein.

Distanziert, emotionslos, geradezu lakonisch erscheint Klüssendorfs Sprache, in der die Erzählung permanent für Spannung sorgt, indem sie ständig zwischen Ausweglosigkeit und Hoffnung pendelt, den Leser damit aber auch einem ständigen Wechselbad der Gefühle aussetzt, ihn immer wieder zwischen Abscheu und Mitleid schwanken lässt in dieser unsäglichen Geschichte. «Das Mädchen» lebt völlig vernachlässigt mit ihrer alkoholsüchtigen Mutter und ihrem kleineren Bruder in einer familiären Hölle aus Armut, Lieblosigkeit und brutaler Gewalt bis hin zum Sadismus. Die Wirkungen sind verheerend, das malträtierte, vernachlässigte Mädchen reagiert ihrerseits mit Hass, wehrt sich gegen den psychischen und physischen Terror, gleitet in die Kleinkriminalität ab, flüchtet sich aber auch in ihre Träume, sucht verzweifelt einen Halt in der Literatur, versucht dem sozialen Abstieg entgegenzusteuern, die Opferrolle los zu werden. Es gibt keinen Spannungsbogen in diesem Roman, keinen Höhepunkt, auf den alles zuläuft, lauter kleine Begebenheiten reihen sich gleichberechtigt aneinander bis hin zum abrupten Ende, das uns ohne jeden positiven Ausblick in völliger Hoffnungslosigkeit zurücklässt.

Zu dieser düsteren Thematik passt die knapp und kühl wirkende Sprache ideal, durchgängig im Präsens formuliert, fast reportageartig wirkend und sich sehr radikal zurückhaltend mit Deutungen oder Hinweisen, damit den Leser in eine Stimmung versetzend, die nicht gerade als erfreulich bezeichnet werden kann, ihn aber eher wütend macht als melancholisch. Man kommt ins Sinnieren, inwieweit hier Realität abgebildet wird, hofft, es wäre nicht so, ahnt aber, leider doch, es ist real! Was kann aus Menschen werden, die so heranwachsen, die kaum eine Chance haben nach ihrer traumatischen Kindheit, an der sie selbst ja überhaupt keine Schuld tragen?

Ein Wohlfühl-Roman ist dieses schmale Buch also nicht, irgendwie ist man froh, wenn man das Ende erreicht hat, kann aber dann nicht umhin, immer wieder noch mal auf die Geschichte zurückzukommen, ihre Botschaft zu ergründen, auch wenn sich die Autorin jedweder Interpretation enthalten hat. Wofür man ihr dankbar sein muss! Was die Lektüre bewirkt beim Leser, unterscheidet sich erheblich voneinander, aber auch wenn die Mehrheit begeistert ist, ich war es nicht! Was natürlich ganz allein meine Schuld ist, mich hat letztendlich weder der Plot noch die karge Sprache überzeugt in ihrer fragwürdig erscheinenden Sprunghaftigkeit.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln