Die Stunde der Komödianten

Wohl kaum nobelpreisfähig

Mit «Die Stunde der Komödianten» hat der britische Schriftsteller Graham Greene einen der für ihn typischen Romane vorgelegt, in dem menschliche Eigenschaften wie Glaube, Schuld und Verrat in abenteuerlichen Geschichten thematisiert werden. Seine Romane sind zumeist im Stil von spannenden Kriminal- oder Spionagegeschichten erzählt, enthalten aber auch einige Thriller-Elemente in Stories, die politische Inhalte haben als Grundlage des Erzählstoffs. Der vorliegende Roman erweist sich als Kritik am Kolonialismus und dessen unrühmlichen Folgen. hier explizit am Terrorregime des Diktators François Duvalier, genannt ‹Papa Doc›, der die Macht auf Haiti vor allem durch die paramilitärische Miliz der Tonton Macoute an sich reißen konnte. Trotz der düsteren Atmosphäre, in der auch dieser Roman angesiedelt ist, fehlt es im Erzählten nicht an einer Prise des typischen schwarzen, britischen Humors, worauf ja auch der Buchtitel hinweist.

Und in der Tat, es sind skurrile Figuren, die 1963 auf einem kleinen Schiff von New York nach Haiti reisen. Protagonist des Romans und Ich-Erzähler ist der etwa 50jährige, in Monte Carlo geborene Mr. Brown, der nach drei Monaten in New York wieder nach Haiti zurückkehrt. In Rückblenden erzählt er von seinem Leben, er hatte in Europa einen lukrativen Handel mit gefälschten und falsch signierten Gemälden aufgezogen, die er jeweils einem jungen Maler in Auftrag gab. Mit den Fälschungen in einem Wohnwagen zog er als ambulante Galerie von Ort zu Ort und machte gute Geschäfte mit unwissenden Kunden, bis er irgendwann aufflog! Er floh nach Haiti, wo seine Mutter in Porte aux Prince ein respektables Hotel besaß, das er nach ihrem Tod geerbt hat. Voller Elan stürzte er sich ins Geschäft und brachte das Trianon erfolgreich zu neuem Glanz. Im Spielcasino lernte er Martha, die deutsche Frau eines Botschafters kennen, sie wurde seine Geliebte. Durch das Terrorregime aber kam der Tourismus auf Haiti fast vollständig zum erliegen, niemand wollte sein Hotel kaufen, weil die Touristen schlagartig weggeblieben sind.

Auf der sechstägigen Überfahrt von New York lernte Brown den britischen Major Jones kennen, der mit seinen Kriegs-Abenteuern prahlt, ein äußerst charismatischer, jovialer Mann, den er aber nicht recht durchschauen kann, mit dem er dann auch nach der Ankunft regen Umgang pflegt. Und er trifft auf das etwas seltsame, aber grundanständige Ehepaar Smith aus den USA, wo der Ehemann 1948 Präsidentschafts-Kandidat war für die winzige Partei der Vegetarier. Mr. Smith will ‹Papa Doc›, den haitischen Präsidenten, für den Bau eines Vegetarier-Zentrums in Porte aux Prince gewinnen. Ein, wie sich herausstellt, sinnloses Unterfangen angesichts der wild wuchernden Korruption in diesem maroden Staat. Dass Paar reist ernüchtert ab! Im dritten Teil des Romans gerät Major Jones ins Visier der Tonton Macoute, wird verhaftet, kommt wieder frei, bekommt dann durch den Ich-Erzähler Brown Asyl in der Botschaft von Marthas Ehemann. Ein Eigentor für Brown, denn jetzt ist Jones ständig mit Martha, seiner Geliebten, zusammen, Brown wird eifersüchtig. Jones flüchtet bei Nacht und Nebel aus der Botschaft und schließt sich einer Rebellentruppe an, die den Diktator vom benachbarten Santo Domingo aus stürzen will.

Alles Schall und Rauch, wie sich am Ende herausstellt, die Figuren des Romans sind allesamt Traumtänzer, fast alles ist gelogen. Jones war nie im Krieg, und Browns wilde Pläne enden damit, dass er einen Job als Beerdigungs-Unternehmer antritt. Als Thriller mag dieser in einer klaren, zielgerichteten Sprache erzählte Roman seine Leser gut unterhalten, die politische Absicht, die Verdammung von staatlichem Terror, bleibt dagegen seltsam kraftlos schon im Ansatz stecken. Gauner und Spione interessieren wohl nicht nur im Kino, sondern auch in der Literatur ein breites Publikum. Um nobelpreisfähig zu sein mangelt es hier narrativ aber so ziemlich an allem, sogar an Spannung!

Fazit:   mäßig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay München

Die Kindheit Jesu

Vom Circulus vitiosus des Begehrens

Der Roman «Die Kindheit Jesu» des südafrikanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers J. M. Coetzee erinnert in seiner Thematik unwillkürlich an «Utopia» von Thomas Morus. «Ein», wie es im lateinischen Beitext von 1516 heißt, «wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam», das vor mehr als fünfhundert Jahren den Anstoß zum literarischen Genre der Sozialutopie gab. Auch bei Coetzee geht es um eine ideale Gesellschaft, deren detaillierte Beschreibung den Effekt hat, immer wieder neue philosophische Aspekte aufzugreifen. Der Leser wird in eine bezwingend klare, moralisch nachdenklich machende Gedankenwelt mitgenommen, die auch kafkaeske Züge trägt.

Auf einem Auswanderer-Schiff nimmt sich Simon, ein 54jähriger Mann, dem etwa fünfjährigen David an, der mutterseelenallein unter den Emigranten ist. David hat einen Brief, den er um den Hals bei sich trug und der seine Herkunft hätte klären können, verloren. Über seine Vergangenheit kann er keinerlei Auskünfte geben, nicht einmal seinen richtigen Namen weiß er. Auch Simon ist, wie es im Roman heißt, «reingewaschen von der Vergangenheit», die Einwanderungs-Behörde hat ihnen beiden einen neuen Namen zugewiesen und sorgt auch für eine Unterkunft. Simon hat sich vorgenommen, Davids Mutter zu finden, die vor ihm hierher gekommen sein muss, da ist er sich sicher. Er findet eine Arbeit als Schauermann im Hafen am Pier für Getreide. Über eine steile Leiter und eine schmale Planke muss er die schweren Säcke aus dem Schiffsrumpf an Land tragen, eine mühsame und ungewohnte Arbeit für ihn.

Der Vorarbeiter und die Kollegen sind äußerst nett zu ihm, er wird schnell in ihren Kreis aufgenommen. Als er nach einiger Zeit seinen Vorarbeiter fragt, warum diese schwere Arbeit nicht mit Hilfe eines Krans erledigt wird, löst er großes Erstaunen auch bei den Kollegen aus. Man hält ihm vor, das würde ja viele von ihnen als Arbeitskraft ersetzen, und dann wäre es ihnen ja sehr langweilig. Nach intensiver Diskussion beschließen die Männer gleichwohl, von der Baubehörde einen Kran auszuleihen und ihn probeweise einzusetzen. Aber nach einem anfänglichen Unfall mit herabfallender Ladung kehrt man wieder zur alten Methode zurück. Auch die Tatsache, dass in dem riesigen Getreidespeicher der Stadt eine Rattenplage herrscht, wird als ganz normal hingenommen. Die Bevölkerung ernährt sich fast ausschließlich von Brot und Wasser, höhere Ansprüche hat man nicht. Alle Wohnungen sind kostenlos und werden jedem von einer Behörde zugeteilt, und auch das Busfahren ist umsonst. Den Menschen ist eine leidenschaftslose Gelassenheit zueigen, sie sind absolut anspruchslos und kennen keinerlei Neidgefühle. Simon findet schließlich in einer Tennisspielerin die Mutter für David, und er kann sie tatsächlich überzeugen, diese Rolle anzunehmen. Der Junge erweist sich als hochintelligent, aber auch als sehr störrisch und eigensinnig. Die vielen Passagen seiner – extrem antiautoritären – Erziehung sind entschieden zu lang geraten und beeinträchtigen dadurch leider deutlich spürbar die eigentliche, gesellschafts-kritische Intention des Autors!

Ironisch weist Coetzee mit dem Buchtitel auf die Bibel hin, während er sich in seiner Geschichte dann aber auf Cervantes und den «Don Quichotte» bezieht, dem besten Buch der Welt, wie eine von der Nobelstiftung ausgewählte Jury aus 100 bekannten Schriftstellern im Jahre 2002 befand. Ein zeitloses Werk, das sinnbildlich für einen idealisierenden Heroismus steht. Das Streben nach mehr, so die Botschaft auch von Coetzee, erweist sich als sinnlos, weil hinter der Erfüllung der Wünsche dann gleich wieder ein neues Verlangen wartet, ein Circulus vitiosus also, der symptomatisch verkörpert ist im kapitalistischen System mit seinem Konsumterror. Das Begehren ist den Bewohnern dieses seltsamen Landes nämlich absolut fremd, ihre Bedürfnislosigkeit existiert sogar beim Sex, den es hier eigentlich nur auf Krankenschein gibt. Intellektuell auf hohem Niveau, brennt der Autor geradezu ein Feuerwerk ab an tiefschürfenden philosophischen Diskussionen, die bereichernd sind und oft sogar recht amüsant!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Das geheime Prinzip der Liebe

Eine ungewöhnliche Thematik

Der Debütroman der französischen Schriftstellerin Hélène Grémillon befasst sich mit der literarisch seltenen Thematik einer Leihmutterschaft. Er wurde in 19 weitere Sprachen übersetzt und hat trotz seines irreführenden deutschen Titels «Das geheime Prinzip der Liebe» auch hierzulande einen Hype ausgelöst. Erstaunlich, denn es handelt sich eben nicht um einen der auflagenstarken, typisch kitschigen Liebesromane. Ganz im Gegenteil, mit seiner eher ungewöhnlichen Thematik verbinden sich vielmehr komplizierte, vielschichtige psychologische Aspekte, als da sind: Die herzliche Freundschaft zweier ungleicher Frauen, die Liebe zwischen Mann und Frau als schier unerschöpfliches Thema, ferner Eifersucht, aber auch zerstörerisches Misstrauen und letztendlich Hass, der zuletzt düstere Rachegefühle auslöst. Le Confident, so der Originaltitel, bedeutet wörtlich ‹Der Vertraute› oder Mitwisser, und genau darum geht es auch in diesem Roman. Die streng geheim gehaltene Leihmutterschaft mündet hier in einen erbitterten Krieg der beiden beteiligten Frauen um das Kind, das auf diesem unkonventionellen Wege entstanden ist.

Der Roman beginnt mit dem vorangestellten Hinweis ‹Paris 1975›: «Eines Tages bekam ich einen Brief. Einen langen Brief ohne Unterschrift.» Die 35jährige Verlegerin Camille findet unter den Beileidsbriefen zum Tode ihrer Mutter Annie einen längeren Text, der sich mit der einstigen Leihmutterschaft ihrer verstorbenen Mutter beschäftigt und mit Louis unterschieben ist. Immer mehr solcher Briefe folgen, sie rätselt, wer der Briefschreiber ist und warum er ihr schreibt. Es geht in diesen Briefen um die junge Malerin Annie, die vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Champagne nach Paris gekommen ist, um dort Malerei zu studieren, und die in der zehn Jahre älteren Madame M eine wohlhabende Gönnerin findet. Die schenkt ihr nicht nur immer wieder neue Materialien für ihre Kunst, sondern stellt ihr auch einen Raum in ihrer großzügigen Wohnung als Atelier zur Verfügung und engagiert einen bekannten Künstler als Lehrer für sie. Als Madame M ihr in einem vertraulich en Gespräch ihre Verzweiflung darüber gesteht, dass sie offensichtlich keine Kinder bekommen kann, macht Annie ihr spontan das Angebot, für sie als Leihmutter ein Kind auszutragen. Auch der überraschte Ehemann ist schließlich bereit, seiner Frau auf diesem ziemlich ungewöhnlichen Wege ihren sehnlichen Kinderwunsch zu erfüllen.

Mit «Die Ahnung» ist ein diesem Roman stimmig vorangestelltes Zitat von Frederico Garcia Lorca übertitelt, und tatsächlich ahnt man als Leser im Verlauf der Geschichte sehr schnell, dass die hoffnungsvoll arrangierte, streng geheime Leihmutterschaft wahrscheinlich kläglich scheitern wird. Als Annie schließlich schwanger ist, zieht Madame M mit ihr in ihr einsam gelegenes Ferienhaus und verbirgt sie dort vor allen Leuten. Sie selbst aber beginnt, demonstrativ eine eigene Schwangerschaft vorzutäuschen, und als das Kind von Annie als Hausgeburt ohne Hilfe heimlich auf die Welt kommt, gibt Madame M beim Standesamt das Baby als ihr eigenes Kind aus, – und niemand durchschaut den Schwindel!

Erzählt wird all das und die darauf folgenden, erbitterten Kämpfe um das Kind in einem örtlich und zeitlich vielfach verschachtelten Plot aus ganz verschiedenen Perspektiven. In denen werden die diametral entgegenstehenden Vorstellungen und Ansprüche der einstigen engen Freundinnen an die Mutterschaft in aller Schärfe ausgetragen. Es ist seine extreme stilistische Verschachtelung, die diesen Roman als Lektüre überaus schwierig macht. Nach und nach legt die Autorin in ihrem puzzleartigen Plot ein Handlungs-Teilchen an das andere und schließt so die vielen Leerstellen ihrer Geschichte, die dem Leser dann allmählich verständlicher werden. Um auch jeden Zweifel zu zerstreuen, dass ihr Roman wirklich keine Herz-Schmerz-Liebes-Geschichte ist, lässt die Autorin ihn ganz unversöhnlich in einem harten, tragischen Ende ausklingen, mit dem man so nicht gerechnet hat als Leser.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Hoffmann und Campe

Der Unberührbare

Sprachgewaltiger Nicht-Thriller

In seinem Roman «Der Unberührbare» erzählt der irische Schriftsteller John Banville die Lebensgeschichte eines Spions und Doppelagenten, der am Ende seiner konspirativen Karriere auffliegt und ins Bodenlose stürzt. Victor Maskell, Sohn eines protestantischen Bischoffs, als promovierter Kunsthistoriker hoch angesehen, Kurator der königlichen Kunstsammlungen mit verwandtschaftlichen Verbindungen zu den Windsors, wird nach seiner Enttarnung von einer jungen Frau aufgesucht, die ein Buch über ihn schreiben will. Der 72Jährige hält den Inhalt ihrer Gespräche schriftlich fest und schreibt damit quasi nebenbei seine Autobiografie, er rekapituliert als plötzlich geächteter und vereinsamter Mann der britischen Oberklasse sein bewegtes Leben. Darin hat er viele Rollen gespielt, ohne je wirklich Empathie entwickelt zu haben, selbst nicht seiner Frau und seinen Kindern gegenüber. Er hat nichts und niemanden an sich heran gelassen, er war stets «Der Unberührbare». Trotz seiner Thematik ist dieser Roman allerdings alles andere als ein Spionagethriller, soviel vorweg!

Der Schwerpunkt der nicht chronologisch angelegten Erzählung liegt im London Ende der wilden ‹Dreißiger Jahre›, wo der Ich-Erzähler als Mitglied der ‹Guten Gesellschaft› ein Leben in Saus und Braus führt. Als Kunstexperte hat Victor Maskell sich einer intellektuellen Szene angeschlossen, in der wilde Diskussionen auch über politische Themen geführt werden. Die kleine Clique, der er angehört, hält den Kommunismus für die bessere Gesellschaftsform und beginnt, dem russischen Geheimdienst Informationen zu liefern und britische Behörden und Institutionen auszukundschaften. Dabei bleibt der Protagonist auffallend distanziert, für ihn ist die Spionage lediglich eine Möglichkeit, etwas Leben in seinen langweiligen Alltag als Wissenschaftler zu bringen. Seine introvertierte Art hilft ihm dabei, später auch als Doppelagent viele Kontakte zu beiden Seiten zu halten, ohne dabei aufzufallen.

Auch privat ist er ein Einzelgänger, der erst spät, als über Zwanzigjähriger, die Schwester seines besten Freundes spontan nachts anruft und sie fragt: «Wollen Sie meine Frau werden?» Nach kurzer Bedenkzeit stimmt Vivienne zu. Er erlebt nach der Hochzeit seine Initiation, denn er hatte bisher noch nie Kontakt zu einer Frau. Aber Vivienne hilft ihm lachend über seine Unbeholfenheit hinweg, sie hatte schon etliche Liebhaber. Seine bisher unterdrückte, latente Homosexualität kommt dann allerdings später umso stärker zum Vorschein. Als Schwuler führt er ein geheimes Leben in den entsprechenden Kreisen, das streng geheim bleiben muss, um ihn nicht zu kompromittieren. Aber auch dabei bleibt er rigoros egoistisch, ohne enge und dauerhafte Bindungen einzugehen. Einzig die Kunst, und dabei speziell der französische Barockmaler Nicolas Poussin, berührt ihn wirklich, ist Balsam für seine Seele.

John Banville zeichnet seinen egoistischen Protagonisten als unberechenbar und kaltherzig, wenn er ihn detailreich davon erzählen lässt, wie er zum Spion wurde. In unendlich vielen, alkohollastigen Gesprächen der unnahbaren Hauptfigur erläutert der Autor kenntnisreich die vielen Querverbindungen und Kontakte der Akteure, die ein dichtes Spionagenetz bilden, in dem kaum noch einer den Durchblick hat, selbst die obersten Chargen nicht. Aber so viel da auch erzählt wird, so wenig erfährt der Leser letztendlich wirklich, alles bleibt im Dunstkreis der Geheimagenten und ihrer chiffrierten Sprache. Sein Held, der als kunstbesessen so gar nicht in die eher profane, politische Welt jener Zeit von vor bis nach dem Zweiten Weltkrieg passt, bleibt auch im Verhältnis zum Leser «unberührbar», er ist und bleibt in seiner emotionslosen Art eine zutiefst unsympathische Figur. So wenig also der Plot selbst zu bieten hat, so kontemplativ ist die Art des Erzählens, stilistisch ein Fest geradezu an intellektuellen Gedankengängen. Die alle nachvollziehen zu können fordert volle Aufmerksamkeit, wirkt anschließend dann aber auch sehr bereichend in seiner imponierenden Sprachgewalt.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Trio

Drei Romane in einem

Zum umfangreichen Œuvre des schottischen Schriftstellers, Drehbuchautors und Regisseurs William Boyd gehört mit dem Roman «Trio» ein Alterswerk, das er in der ihm vertrauten Szene des Filmgeschäfts sowie auch im Milieu der Autoren und Verlage angesiedelt hat. In drei parallel laufenden Handlungssträngen schildert er am Beispiel seiner drei Protagonisten die Diskrepanz zwischen Innen- und Außen-Wahrnehmung des Menschen, die er als in der unterhaltenden Kunst besonders gravierend beschreibt. Angesiedelt ist dieser Plot im Jahre der gesellschaftlichen Umbrüche 1968. Deren politische Bedeutung wird im Roman deshalb nicht thematisiert, weil ihre Auswirkungen zum Zeitpunkt der revolutionären Ereignisse, wie sie heute historisch gewertet werden, so noch gar nicht absehbar waren.

Fernab von den studentischen Unruhen in Paris wird im südenglischen Seebad Brighton ein Film mit dem künstlerisch eher skeptisch machenden Titel «Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond» gedreht. Nacheinander werden die drei Protagonisten im Roman eingeführt, ihre jeweilige Geschichte wird in drei separaten Handlungsebenen erzählt. Da ist zunächst Talbot, der mit allen Wassern gewaschene, clevere Produzent dieses Films, ein Krisenmanager par excellence, der ahnt, dass sein Co-Produzent ihn ausbooten will. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Privat betätigt er sich klammheimlich mit der Aktfotografie, wobei Männer und Frauen gegen Honorar für ihn Modell stehen. Seine tief in ihm verborgene, homophile Neigung aber lebt er nicht aus, er verdrängt sie, um einen Skandal zu vermeiden.

Die junge amerikanische Schauspielerin Anny spielt in seinem Film die weibliche Hauptrolle. Sie erträgt den Stress der Publicity als umjubelter Star nur mit diversen Medikamenten und wechselnden Liebhabern, zu denen auch ihr Filmpartner gehört. Ihr Ex-Ehemann ist ein vom FBI gesuchter linker Terrorist, der in den USA drei Sprengstoff-Attentate begangen hat. Ihm ist bei einer Vernehmung die Flucht aus dem Gefängnis gelungen. Nun taucht er überraschend in ihrem Hotel auf und fordert Geld von ihr, damit er in ein möglichst weit entferntes Land fliehen kann.

Die dritte Protagonistin ist die mit dem Regisseur des Films unglücklich verheiratete Schriftstellerin Elfrida. Sie hat nach ihrem erfolgreichen Debütroman eine Schreibblockade, die nun schon zehn Jahre andauert und sie zur Alkoholikerin hat werden lassen. Ihr obsessiv gefasster Vorsatz, nun endlich wieder einen Roman zu schreiben, und zwar über den Suizid von Virginia Woolf, scheitet kläglich.. Mit der hatten die Kritiker sie ja einst bei ihrem Debüt euphorisch verglichen. Dieses Thema aber erweist sich jetzt als Debakel, sie kommt über den ersten Absatz einfach nicht hinaus. Die komplizierten Vorgänge beim Filmdreh und die Probleme und kleinen Katastrophen am Set werden in diesem Roman ebenfalls sehr anschaulich geschildert, man bekommt einen interessanten Einblick in die Usancen einer nach außen hin ja glamourösen Branche. Ähnlich bereichernd sind auch die geschilderten Schwierigkeiten von Elfrida, im Wechselspiel mit Verlagen und Agenten ein neues Romanprojekt zu realisieren.

Der turbulente, klug konstruierte und stets eindeutig nachvollziehbare Plot wartet mit vielen überraschenden Wendungen auf, die permanent für Spannung sorgen. Mit vielen Reflexionen über Innen- und Außen-Wahrnehmung demaskiert der Autor psychologisch tiefgründig die menschlichen Verhaltensweisen zwischen sturer Ignoranz und kleinlauter Selbsterkenntnis. Stilistisch angenehm unmanieriert und flüssig lesbar, erzählt der Autor oft in erlebter Rede, womit er die Distanz zu seinen Figuren aufhebt und ihr Innenleben offenlegt. Sie wirken dadurch besonders glaubhaft und realistisch. Als Leser wird man aber leider in der Erwartung enttäuscht, dass die einzelnen Geschichten am Ende zusammen geführt werden, – ein unnötiges Manko. Man hätte die drei Geschichten nämlich auch, jede für sich, als respektablen Roman veröffentlichen können!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Kampa Verlag Zürich

Air

Nur der narrativen Ästhetik verpflichtet

«Air», der neue Roman des skandalumwitterten Schweizer Schriftstellers Christian Kracht, weist schon mit seinem surrealistischen Titelbild auf ein zu erwartendes, unkonventionelles Erzählen hin, das Markenzeichen dieses literarisch höchst eigenwilligen Autors. Schon seit dem Hype um sein Debüt «Faserland» zerfällt die Leserschaft in glühende Verehrer und absolute Verächter seiner Kunst, nicht nur, was deren oft verquere Thematik anbelangt. Es ist auch die gewollt wirre, zuweilen kaum nachvollziehbare Art des Erzählens, die derart polarisierend wirkt. Schon der erste Satz von »Air» liefert eine Idee davon, wie alles relativiert wird in diesem dystopischen Roman: «Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich».

Es beginnt mit einem lukrativen Auftrag, den der in einer kleinen schottischen Stadt auf den Orkney Inseln lebende Innenarchitekt Paul von dem angesagten, «leicht spleenigen, sich selbst absichtlich irrelevant machenden Dekorations-Magazin» namens «Küki» bekommt. Es geht darum, das geheime, unterirdische Datenzentrum der amerikanischen Tech-Giganten in einem Fjord Norwegens neu zu streichen Und zwar in einem zur Bedeutung des Ortes perfekt passenden Weiß, wofür Pauls weltweit geschätzte Expertise gefragt ist. Ein zweiter, mittelalterlich anmutender Handlungsstrang führt in eine Parallelwelt und erzählt von dem neunjährigen, elternlosen Mädchen Ildr, das mit Pfeil und Bogen auf der Jagd nach einem Reh im dichten Gebüsch einen ganz in Weiß gekleideten Mann anschließt. Sie zieht ihn auf einer aus Stöcken zusammen gebastelten Bahre einen Kilometer weit durch den Wald bis zu ihrer Hütte und pflegt ihn dort gesund. Er ist auf der Flucht vor den Soldaten des Herrschers und verschanzt sich schließlich mit ihr in einem Kastell, wo Ildr mit der weißen Pistole des Mannes bei einem Ausbruch mehrere Soldaten erschießt, was die anderen in die Flucht schlägt. Als Ildr den Mann fragt, was das denn für eine Waffe sei, erklärt er ihr, sie sei von einem 3D-Drucker gemacht worden, und vorne kämen kleine Kugeln heraus, keine Pfeile.

Hinter allem, was man da liest, versteckt sich narrativ ein doppelter Boden, alles bleibt rätselhaft und entzieht sich immer wieder der Deutung. Dazu tragen auch die vielen Verweise auf die germanische Mythologie bei, ebenso die sich um Künstliche Intelligenz rankenden Fantasien und die deutlichen Hinweise auf Literaten, deren Visionen den Autor erklärtermaßen beeinflusst haben. Selbst Zitate aus Kinderbüchern und bekannten Hollywood-Spielfilmen gehören zu den deutlich erkennbaren Motiven dieses erratischen Romans. Dessen Plot dann aber oft Verwirrungen erzeugt, indem er auch sämtliche zeitlichen Begrenzungen aufhebt. Die Handlung gerät so zu einer unbekümmert hin und her oszillierenden Zeitreise ohne Ziel, alles bleibt provokativ in der Schwebe.

Bei aller Leichtigkeit des Erzählens irritiert letztendlich dann aber doch die völlige Sinnlosigkeit eines nur der narrativen Ästhetik verpflichteten, eskapistischen Romans ohne Inhalt und Bedeutung. Daran ändern auch die vielen sachkundigen Verweise und gegenseitigen Bezüge in diesem Roman nichts. Sie stehen erzählerisch quasi im leeren Raum und künden allenfalls von der Belesenheit des Autors, der sie aber partout in keinerlei Sinnzusammenhang bringen will. Damit wird ein Tummelfeld bereitet für die Exegese dieses Werkes, auf dem fantasiebegabte Fans und realitätsverhaftete Verächter dieses Skandal-Autors munter die Klinge kreuzen können. Und alle haben Recht! Denn mit lebhafter Fantasie lässt sich bekanntlich ja sogar jedes Horoskop verifizieren, – man liest ganz einfach nur das heraus, was man letztendlich wahr haben will. Für Leser mit Bodenhaftung bleibt zu hoffen, dass mit «Air» nicht etwa ein neues Zeitalter der Literatur eingeläutet wird, wie man das fast einhellig jubelnde Feuilleton interpretieren könnte, – das wäre dann sozusagen die Post-Postmoderne!

Fazit:   miserabel

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Wackelkontakt

Ein Trauerredner und ein Ex-Mafioso

Der durch seine «Brenner»-Krimis bekannt gewordene, österreichische Schriftsteller Wolf Haas hat mit «Wackelkontakt» einen neuen Roman vorgelegt, der mit einem originellen Plot an seine ebenfalls pikaresken Romane «Das Wetter vor fünfzehn Jahren» oder «Die Verteidigung der Missionarsstellung» anknüpft. Mit einem raffinierten ‹Zwei Romane im Roman›-Konstrukt werden im Wechsel zwei Geschichten mit zwei verschiedenen Protagonisten erzählt, einem Mafioso und einem Trauerredner, die unabhängig voneinander das Buch lesen, welches von dem jeweils Anderen handelt. Wobei vom Layout her das Besondere daran ist, dass diese beiden Erzählungen im laufenden Text ohne äußerlich erkennbare Abgrenzung, oft sogar mitten im Absatz, ganz unvermittelt aufeinanderfolgen. Mit dem Griff nach dem Buch im letzten Satz des einen folgt übergangslos der Text des jeweils anderen Buches, ohne dass es je irritierend wirkt.

In Wien wartet der Trauerredner Franz Escher auf den Elektriker, der in seiner Küche einen Wackelkontakt in einer Steckdose beseitigen soll. Der alleinstehende 50jährige Mann vertreibt sich die Wartezeit mit einem Mafia-Buch, das von dem jungen Mafioso Elio Russo handelt, der als Kronzeuge der Justiz 27 Mafiabosse ausgeliefert hat und nach drei Jahren Gefängnis nun mit neuer Identität ins Ausland flieht. Durch das Zeugenschutz-Programm mit einigem Startkapital ausgestattet, taucht er nach einer seine Identität verschleiernden Gesichtsoperation in Deutschland unter und eröffnet unter seinem neuen Namen Marco Steiner in Duisburg eine Reparatur-Werkstatt für Fahrräder. Als nach fünf Jahren das Geschäft mit italienischen Fahrrädern plötzlich bedrohlich für ihn wird, siedelt er um nach Berlin und spezialisiert sich dort auf E-Bikes. Eines Tages bittet ihn eine junge Frau, die defekte Alarmanlage in ihrem Auto stillzulegen. Zögernd hilft er ihr, verliebt sich, heiratet sie und wird Vater einer Tochter, der sie den Namen Ala geben. Vier Jahre später drängt seine Frau ihn plötzlich, ohne einen Grund zu nennen, zu einem sofortigen Ortswechsel, sie ziehen spontan nach Wien um.

Nach weiteren zehn Jahren wird Ala in der Schule mit dem Thema Ahnenforschung konfrontiert und beginnt unangenehme Fragen zu stellen, weil sie fast gar nichts weiß von ihrem Vater. Neugierig geworden stößt sie auf das Buch, das er als junger Mann im Gefängnis angefangen hatte zu lesen, mit dessen Hilfe er damals Deutsch lernen wollte, das er aber nie zu Ende gelesen hat. Es handelt von dem Trauerredner Franz Escher, der während der Reparatur seiner Steckdose in der Küche ganz in Gedanken den abgeschalteten Sicherungsautomaten wieder eingeschaltet hat, was den Elektriker das Leben kostet. Die Polizei geht von einem Arbeitsunfall aus, aber das Gewissen lässt Escher keine Ruhe, und so versucht er, quasi als moralische Wiedergutmachung, wenigstens den Auftrag für die Trauerrede zu bekommen. Was ihm auch gelingt, aber in dem Gespräch mit der Witwe erfährt er von dem erbitterten Streit des Toten mit seiner 14jährigen Tochter am Vortag des Unglücks, die durch ihre Nachforschungen im Internet die Mafia auf ihre Spur gelenkt hat. Sie wird denn auch prompt entführt, man fordert 3 Millionen Euro Lösegeld für ihre Freilassung. Was Escher zu Höchstleistungen anstachelt, er will sie unbedingt befreien, er fühlt sich mitschuldig.

Es gehe ihm um die Frage der Identität in seinem Roman, hat der Autor erklärt, verdeutlicht an der Figur des Ex-Mafioso Elio/Marko. Eine zweite Thematik seien die Puzzles, denen sich Escher mit Hingabe widmet, Symbol für seinen Wunsch, sich die Welt anzueignen. Dieser formal eigenwillige Roman ohne moralischen oder philosophischen Tiefgang wartet mit einem hohen Unterhaltungswert auf. Bei ihm stehe immer der Tonfall im Vordergrund, hat Wolf Haas im Interview erklärt. Verblüffend ist, wie er es schafft, zwei zeitlich so weit auseinander liegende Geschichten wie die nur wenige Tage dauernde des Trauerredners und die sich über zwei Jahrzehnte erstreckende des Ex-Mafioso munter hin und her springen und am Ende sogar ineinander fließen zu lassen. Chapeau!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Mittagsstunde

Flurbereinigung auf den Mädchenköpfen

Dem Genre ‹Heimatroman› haftet nicht ohne Grund der Verdacht auf Kitsch an, «Mittagsstunde» von Dörte Hansen ist der schlagende Beweis für das Gegenteil. Ganz ohne jede Rührseligkeit wird darin die Geschichte eines Dorfes erzählt, das sich im Wandel befindet und in dem die alten Gewissheiten und Angewohnheiten sich dem Zeitgeist entsprechend verändern, so dass irgendwann auch die titelgebende «Mittagsstunde» der Vergangenheit angehört. Seit alters her als ‹Mittagsschlaf› von allen Bewohnern praktiziert, strukturiert er als Arbeitspause zeitlich das Leben des Dorfes und bildet dementsprechend auch den roten Faden in dieser Geschichte aus Nordfriesland. In ihrer Familie, hat die Autorin wissen lassen, wird untereinander nur Plattdeutsch gesprochen. Und so finden sich auch in ihrem Roman entsprechend viele mundartliche Dialoge, die das Lokalkolorit überaus stimmig abbilden.

Dörte Hansen erzählt von dem fiktiven nordfriesischen Geestdorf Binkebüll, oder, wie sie es erklärt hat, «vom Ende der Sesshaftigkeit». Der Archäologe Dr. Ingwer Feddersen hat sein Dorf vor 25 Jahren verlassen, um in Kiel zu studieren. Der inzwischen 47jährige Hochschullehrer kehrt im Rahmen eines Sabbaticals dorthin zurück, um sein Leben neu zu ordnen. Er ist immer noch Single und lebt seit mehr als zwei Jahrzehnten in Kiel in einer Wohngemeinschaft mit einer gleichaltrigen Architektin und einem Freund aus Studienzeiten. Ob in einer Menage á trois, wie man vermuten könnte, bleibt unklar, es wird nicht mal versteckt irgendwo angedeutet in diesem absolut ‹jugendfreien› Roman. Seine Großeltern betreiben seit Jahrzehnten den alten Dorfkrug, der neben Kirche, Rathaus und Schule eine der Institutionen dieses verschlafenen Dorfes darstellt. Ingwers ledige Mutter ist geistig zurück geblieben und kam als Erbin nicht in Frage. Er selbst aber wollte den Gasthof nicht übernehmen, er war einer der wenigen Hochbegabten, denen der Dorfschul-Lehrer dringend geraten hatte, nicht zu bleiben, sondern studieren zu gehen.

Der Niedergang des Dorfes begann in den siebziger Jahren, äußeres Anzeichnen dafür war die Flurbereinigung, die das Kleinklein der bäuerlichen Strukturen und das Ungeplante und Zufällige der Jahrhunderte alten Infrastruktur beseitigte. Während die großen Höfe investierten und immer größer wurden, verschwanden nach und nach die kleinen, bis schließlich nur noch vier Vollerwerbs-Landwirte übrig blieben. Monokulturen und Großbetrieben bilden fortan die ökonomischen Grundlagen von Binkbüll. Auch einige Städter drängen nach, kaufen für wenig Geld die aufgegebenen, maroden Bauerhäuser und etablieren sich darin mit alternativen, das urbane Zeitalter strikt ablehnenden Lebensentwürfen. Auf Freiflächen entstehen zudem neue Siedlungen mit modernen Häusern, die ebenfalls von Zugezogenen gekauft werden, die als Pendler zur Arbeit in die Stadt fahren. Die ehemals fest verschworene Dorfgemeinschaft, in der jeder jeden gekannt hat und alles seine festen Regeln hatte, löst sich zunehmend auf, und viele der Einheimischen ziehen weg.

Zeitlich zwischen Jetztzeit und siebziger Jahre angesiedelt, wird hier mit viel Witz und ohne sentimentale Schönfärberei vom Strukturwandel erzählt, detailreich und mit einem durchweg sympathischen Figuren-Ensemble. Leider stören einige Ungereimtheiten im Plot, insbesondere das plötzliche und spurlose Verschwinden der schwachsinnigen Mutter von Ingwer Feddersen, das von allen ungerührt hingenommen wird, so als wäre nur ein Wellensittich entflogen. – na und? Aber nicht nur die Störche bleiben weg, weil die Feuchtwiesen trocken gelegt wurden, auch die Menschen ändern sich in Binkebüll. Beim Vergleich zweier Klassenfotos stellt der alte Dorflehrer fest, dass die kleinen Mädchen heute ja alle keine Zöpfe mehr haben, nur noch Kurzhaarfrisuren! «Flurbereinigung jetzt auch schon auf den Mädchenköpfen», denkt er resignierend. Auch für Leser, die keine Nordlichter sind, ist «Mittagsstunde» als stimmig beschriebenes, unsentimentales Zeitzeugnis eine bereichernde und unterhaltsame Lektüre.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Penguin

Ein Haus für Mr. Biswas

Lesespaß aus kontrapunktischer Ironie

In seinem Roman «Ein Haus für Mr. Biswas» erzählt der Nobelpreisträger V. S. Naipaul die Lebensgeschichte eines Journalisten, der als Außenseiter der Gesellschaft einen ständigen Kampf mit den widrigen Umständen seines armseligen Lebens führt. Ort des Geschehens ist die Karibikinsel Trinidad, aus deren indischem Milieu auch der Autor stammt, der damit seinem eigenen Vater ein literarisches Denkmal setzen wollte. Gleichermaßen Entwicklungs- wie Familienroman, nehmen darin die Herausforderungen kein Ende, denen der Sohn eines armen Landarbeiters wie ein Fluch zeitlebens ausgesetzt bleibt, bis zu seinem Tod. Insoweit wäre «Pleiten, Pech und Pannen» ein stimmigerer Titel für dieses trübsinnig machende Buch.

Der zweiteilige, um Prolog und Epilog ergänzte Roman wird in 16 Kapiteln chronologisch erzählt, er beginnt im Kapitel «Pastorale» mit der Geburt des Protagonisten Mohun Biswas. «‹Ein Junge, ein Junge›, jammerte die Hebamme, ‹aber was für ein Junge! Verkehrt herum geboren, und mit sechs Fingern›». Ein zur Hilfe gerufener Pandit beruhigt die aufgebrachte Mutter: «Es gibt immer Mittel und Wege, mit solch unglücklichen Fügungen fertig zu werden». Der weise Mann verordnet nicht nur, dass man das Kind vom Wasser «in seiner natürlichen Form», also «von Flüssen und Teichen», fernhalten müsse, sondern auch, dass der Vater sein Kind die ersten einundzwanzig Tage nach der Geburt nicht sehen dürfe. Am einundzwanzigsten Tage aber müsse er das Kind sehen, und zwar nicht direkt, sondern nur als Spiegelbild auf einer mit Kokosöl gefüllten Messingschale. Mit einer Zweischillingmünze für seine Dienste entlohnt, ist der Pandit «recht zufrieden, er hat mit weniger gerechnet». Auf den mehr als siebenhundert Seiten des zutiefst melancholischen Romans wirken solche amüsanten Szenen immer wieder wohltuend kontrapunktisch. Bei all der Trübsal ist stilistisch zudem immer auch ein ironischer Grundton vorhanden, der eine skeptische Distanz des Autors zu dem sozialen Milieu offenbart, dem er ja selbst entstammt.

Immer knapp bei Kasse, schlägt Mr. Biswas sich mit allerlei Gelegenheitsjobs durchs Leben, um schließlich als Journalist zu arbeiten. Irgendwann kommt er zufällig sogar zu einer Frau und nebenbei dann bald auch zu einer Schar von Kindern. Durch seine Ehe gerät er in den weitläufigen Familienclan seiner Frau, was ihm weitere Probleme und sogar handfeste Konflikte beschert, weil die neue Verwandtschaft ihn zusätzlich plagt und immer nur verspottet. In seinem ständigen Kampf verliert er aber nie sein Ziel aus den Augen: Er möchte irgendwann das titelgebende, eigene Haus haben. Was ihm, nach vielen Umzügen und vorübergehendem familiären Zusammenwohnen dann auch tatsächlich gelingt.

Als Misanthrop zieht der Protagonist boshaft über viele seiner Mitmenschen her. Er erzieht seine Kinder äußerst streng, sie sind ihm ähnlich gleichgültig wie seine gefühlskalte, boshafte Frau, mit der er im Dauerstreit liegt. Die vielen Figuren des Romans sind zumeist unsympathisch, man bekommt keine Nähe zu ihnen als Leser, wozu natürlich auch beiträgt, dass ein exotischer Schauplatz wie Trinidad mit seiner Armut und seinen prekären Lebens-Verhältnissen einem Deutschen gesellschaftlich fremd bleiben muss. Der pessimistischen Stimmung angepasst, wird natürlich auch die zweifellos ja vorhandene Karibik-Idylle mit ihren Traumstränden nicht thematisiert, das lebensfrohe Trinidad der Touristen bleibt konsequent außen vor. Die depressive Grundstimmung dieses voluminösen Romans, in dem so gut wie nichts passiert und das Ende schon im Prolog vorweg genommen wird, ist in ihrer Einförmigkeit auf Dauer nur noch langweilig. Denn auch ein Erkenntnis-Gewinn ist kaum gegeben, man erfährt nichts Neues aus dem tristen Mikrokosmos des Mr. Biswas, auf den sich der Autor narrativ weitgehend beschränkt. Ein Minimum an Lesespaß lässt sich allenfalls aus der kontrapunktisch wirkenden Ironie gewinnen, mit der da erzählt wird.

Fazit:   mäßig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Das Protokoll

Version 1.0.0

Von der Gleichheit aller Daseinsformen

Der Debütroman des damals 23jährigen französischen Schriftstellers Jean-Marie Gustave Le Clézio wurde mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet, gleich zu Beginn ein Ritterschlag also für den späteren Nobelpreisträger. Er sei, hat die schwedische Jury in ihrer Begründung geschrieben, «ein Autor neuer Ansätze, poetischer Abenteuer und sinnlicher Ekstase, Erforscher neuer Menschlichkeit jenseits und unterhalb der herrschenden Zivilisation.» In dem außerordentlich informativen Vorwort zu seinem ersten Roman hat sich der junge Autor über das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser folgendermaßen geäußert: «Es gibt einen Augenblick, in dem sich zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer das Vertrauen einstellt und Gestalt annimmt. Dieser Augenblick ist vielleicht der Augenblick des ‹aktiven Romans›, dessen wesentlicher Faktor in einer Art Zwang zur Mitarbeit besteht. Wobei der Text nur ab und zu mit einer Prise Handlung nachhilft». Er möchte nicht an den veristischen Geschmack des Publikums appellieren, «mit Seelen-Zergliederung und Bilderbuch-Deutlichkeit, sondern an seine Gefühle.» Wie auch immer, eine Zuordnung seines Schreibens zum Nouveau Roman ist allenfalls sehr entfernt zu erkennen. In einem längeren Interview hat er später dann erklärt, seine Lieblings-Romanciers seien Robert Louis Stevenson und James Joyce.

Adam, der 29zigjährige Protagonist der Geschichte, hat sich in einer unwirtlichen, verlassenen Villa an der Côte d’Azur einquartiert und lebt dort ziellos und glücklich in den Tag hinein. Der introvertierte, seltsame Hausbesetzer weiß weder, wie er da hingekommen ist, noch ob er vorher im Militärdienst war oder im Irrenhaus. Als Eigenbrödler hat er kaum Kontakte zu anderen Menschen, auch nicht zu seinen Eltern, die er vor zehn Jahren Knall auf Fall verlassen hat. Äußerer Anlass dafür war damals eine von ihm zerbrochene blaue Schüssel, was den Vater sehr in Rage gebracht hat. Aber daneben war der Wunsch nach Freiheit außerhalb der elterlichen Sphäre ebenfalls mit im Spiel, Adam hat sich immer eingeengt gefühlt bei den Eltern und hat seither keinerlei Kontakt mehr mit ihnen. Auf endlosen Spaziergängen durch die Stadt und am Strand entlang sinniert er vor sich hin, beachtet jedes Detail in seiner Umgebung, hinterfragt den Sinn all dessen, was er wahrnimmt, spekuliert über die Zusammenhänge der Dinge. Er ist finanziell ständig abgebrannt, leiht sich kleine Beträge, ohne dass jemals von Rückzahlung die Rede ist oder vom Geldverdienen. Wovon er lebt, bleibt offen, wie auch so vieles Andere in diesem rätselhaften Roman, der nichts auserzählt und alle Realitäten souverän ausblendet.

Auch die junge Michelle, an die Adam öfter Briefe schreibt in seinem gelben Heft und die sie dort sogar beantwortet, steckt ihm manchmal Geld zu und versorgt ihn mit Zeitungen. Er schnorrt sich scheinbar überall durch. Hin und wieder stielt er zuweilen Kleinigkeiten in den Läden, er lebt immer nur von der Hand in den Mund. Die Natur und auch Tiere spielen in seinem Leben eine große Rolle, minutiös werden die maritim geprägte Landschaft, die Gärten und Strände, die Jahreszeiten und das mediterrane Wetter beschrieben. Wenn er Michelle trifft, aber auch bei allen anderen Begegnungen, hält er endlose Monologe, philosophiert über Gott und die Welt. Adam raucht viel, trinkt auch gern mal einen Schluck zuviel und landet am Ende des Romans zur Beobachtung in einer psychiatrischen Klinik. Dort läuft der Antiheld zur Höchstform auf, verblüfft das Ärzteteam mit seinen Erkenntnissen, scheinbar hat er sogar mal studiert, – er ist jedenfalls intellektuell auf Augenhöhe mit den Göttern in Weiß.

Stilistisch arbeitet Le Clézio mit den verschiedensten Textgattungen, baut Aufzählungen, Briefe, Zeitungsartikel und Formeln mit ein, spielt mit Auslassungen, Unterstreichungen, Schwärzungen und Tabellen in seinem Text. Der Versuch des Autors, eine Art Anti-Existenz zu beschreiben, sein Credo von der Gleichheit aller Daseinsformen, führt den Leser en passant durch ein Labyrinth philosophischer Fragen, die allesamt unbeantwortet bleiben, aber inspirierend wirken.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Die Nacht, die Lichter

Stories von den Underdogs

Die mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Geschichten-Sammlung mit dem Titel «Die Nacht, die Lichter» von Clemens Meyer enthält 15 betitelte «Stories», nach einer davon ist dann auch das Buch benannt. Schon die Genre-Bezeichnung weist darauf hin, dass hier in bester amerikanischer Erzähltradition knapp und pointiert berichtet wird, der Autor hat insbesondere Charles Bukowski als Referenz für sein Schreiben benannt. Es herrscht eine eher trostlose, oft sogar bedrückende Stimmung in diesen Kurzgeschichten über Antihelden, die einen Querschnitt der Außenseiter unserer modernen Gesellschaft abbilden. Es sind allesamt Männer mit Problemen, denen sie nicht gewachsen sind. Frauen spielen nur Nebenrollen, der Fokus in den Kurzgeschichten liegt eindeutig bei den Machos. Und so fehlen in diesen Erzählungen von den Schattenseiten des Lebens denn auch weitgehend emotional erfreuliche Aspekte in den Beziehungen der Figuren zueinander.

Clemens Meyer kennt das Unterschicht-Milieu, von dem er berichtet, aus eigener Erfahrung nur zu gut, er hat sich vor seinem Durchbruch als Schriftsteller jahrelang mit allerlei Aushilfsjobs durchschlagen müssen. Seine Äußerung: «Ich will Geschichten schreiben, die leuchten», muss demnach wohl als ein Alarmsignal aus der Düsterkeit seiner Stories umgedeutet werden. Denn nicht nur die Grundstimmung ist düster, fast alle seine Geschichten spielen in der Nacht. Schon das Buchcover zeigt ja als dunkles Bild die besudelte Theke einer Kneipe mit zwei leeren Gläsern und weist damit auf das Thema Alkohol hin. Der fließt in Strömen in diesen Geschichten, quasi einen roten Faden bildend durch die Trostlosigkeit des darin beschriebenen Lebens. In den meisten dieser Kurzgeschichten bildet der Suff den scheinbar unverzichtbaren Treibstoff des Geschehens. Es sind Heimatlose, von denen da so kundig erzählt wird, Hartz IV-Empfänger, Nachtschwärmer, Arbeitslose, Boxer, Barfrauen, Hundebesitzer, sogar Gabelstapler-Fahrer.

Der einsame Rentner zu Beispiel, dessen innig geliebter, alter Hund plötzlich vor Schmerzen kaum noch laufen kann, träumt von einer sündhaft teuren Operation, mit der man seinen treuen Begleiter noch zwei Jahre am Leben halten könnte. Weil er aber das Geld dafür nirgendwo auftreiben kann, will er mit Pferdewetten sein Glück erzwingen. Ein mittelmäßiger Boxer ist den Machenschaften hinter den Kulissen des korrupten Schaugeschäfts ausgeliefert und lässt sich für kleines Geld auf manipulierte Kämpfe ein, die hohe Gewinne beim Wetten versprechen. Und auch eine junge Frau will ausgerechnet beim Boxen Karriere machen, sie träumt schon von der ersten Liga, in die sie aufsteigen will. Als Zwei sich nach langer Zeit zufällig wiedertreffen, reden ein Mann und seine Ex-Freundin eine Nacht lang miteinander, – aber er weiß genau, zu einer Zweisamkeit wird es doch niemals kommen.

Es geht oft ums nackte Überleben in diesem von Alkohol, Drogen, Geldmangel, Arbeitslosigkeit, Schlägereien, Skandalen und Affären geprägten Buch. Jeder der ruhelosen Nachtschwärmer, Säufer, Junkies, Pechvögel, heimatlosen Träumer und Versagertypen hofft darauf, einmal in seinem Leben zu den Gewinnern zu gehören und nicht immer nur alle sich bietenden Gelegenheiten zu verpassen. Beschrieben wird ohne Larmoyanz, aber auch ohne jede Sozialkritik, das bei diesem Autor wie eine Epidemie auftretende, existenzielle Unglück seiner Figuren, seinen sozial Abgehängten und desillusionierten Versagern. Auffallend ist zudem, dass es zwischen den Figuren kaum mal zu nennenswerten, stimmigen Dialogen kommt, diese Sprachlosigkeit ist symptomatisch. Und es wimmelt geradezu von wohlfeilen negativen Klischees in diesen handlungsarmen Stories von den Underdogs aus dem Parallel-Universum des Clemens Meyer.

Fazit:   lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Fischer Verlag

Leben

In seinem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichneten, autobiografischen Buch von 2013 mit dem Titel «Leben» schildert der Schriftsteller David Wagner die Geschichte seiner Organ-Transplantation. Wegen einer Autoimmun-Hepatitis, die dazu führt, dass die Leber als Fremdkörper aus dem Organismus ausgestoßen wird, wartet er als todkranker junger Mann auf ein Spenderorgan. Das Buch beginnt mit einem Anruf aus dem Krankenhaus, in dem ihm mitgeteilt wird, dass eine passende Spenderleber gefunden wurde und er umgehend zur Operation kommen solle. Die Erzählung ist, deutlich markiert, in zwei Teile getrennt, in Vor und Nach der Operation. Gegliedert in 277 unterschiedlich langen, völlig ungeordneten Erzählschnipseln endet sie mit einem Epilog, in dem im Medizinerlatein vom Ergebnis der ersten Kontroll-Untersuchung berichtet wird, die routinemäßig ein Jahr nach dem Eingriff durchgeführt wurde und die zu einem positiven Ergebnis geführt hat.

So sehr er auch darauf gewartet hat, ein Spenderorgan zu bekommen, so sehr kommen ihm anfangs auch die Zweifel, ob er sich dieser sein ganzes Leben verändernden OP wirklich unterziehen soll. Es drängen sich ihm plötzlich viele Fragen auf: Wie wird sich das Leben für ihn ändern in dem Bewusstsein, ein fremdes Organ in sich zu tragen? Mit welchen Komplikationen muss er rechnen? Ist er danach wirklich noch der Selbe? Lebt er dann nicht auf Kosten des unbekannten Spenders? Ist so ein Leben überhaupt erstrebenswert? Lohnen sich denn die Opfer, die er dafür bringen muss? Und bekommt er mit der neuen Leber letztendlich auch wirklich die Chance, länger leben zu können? Solche Fragen stehen im Mittelpunkt dieser Erzählung von einer Transplantation, von der familiär auch sein Kind und sein Vater betroffen sind.

In vielen Rückblicken erzählt er Begebenheiten und Erlebnisse aus seinem Leben, berichtet von seinen Gedanken, Hoffnungen, Ängsten und seiner Verzweiflung. Er reflektiert über das Leben und über den Tod, über moralische Fragen, aber auch über die emotionalen Herausforderungen und Zumutungen, die seine Krankheit für ihn und die Seinen bedeutet, und natürlich auch über die Chancen, die sich damit für ihn ergeben könnten. Wie von einer Insel aus beobachtet er aus der Geborgenheit seines Krankenbettes heraus die medizinischen und pflegerischen Aktivitäten des Personals, das sich unermüdlich rund um die Uhr um ihn und seine Bettnachbarn und Leidensgenossen bemüht. Die Langweile eines zumeist im Bett liegend und vor sich hindösend verbrachten Tagesablaufs ermuntert manchen Kranken sogar zu Lebensbeichten. Sie reden also nicht nur über ihre Krankheiten und Gebrechen, sie berichten auch von Schicksals-Schlägen. So etwa der Libanese, der davon erzählt, dass er seine beiden Brüder im Bürgerkrieg verloren hat. Und da ist auch der Getränkehändler im Nachbarbett, der sich heimlich aus ihrem Zimmer davonschleicht, um seine Geliebte zu besuchen, wie er gesteht. Immer wieder schielt auch der Ich-Erzähler nach den Frauen, die ihn umsorgen und dabei Sehnsüchte in ihm wecken, deren er sich in seiner hilfsbedürftigen Situation durchaus schämt, die er aber partout nicht zu unterdrücken vermag.

Als Buch ohne Gattungsbezeichnung besteht «Leben» aus literarischen Miniaturen, die in ihrer Fülle und thematischen Vielfalt ein enges narratives Geflecht bilden. Darin enthalten sind neben Glücksmomenten voller Zuversicht auch dramatische Szenen des Überlebens-Kampfes und der Todesnähe. Die phonetische Nähe der dieses Buch prägenden Begriffe «Leben» und «Leber», die für den Ich-Erzähler ja fast identisch sind, führen dann prompt auch tatsächlich einmal dazu, dass er sie in einer SMS verwechselt. Stilistisch distanziert, oft essayartig  erzählt, wirkt dieses nachdenklich machende Buch gleichwohl berührend auf den Leser. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil er ja jederzeit selbst an einem solchen Kipppunkt seines Lebens stehen könnte.

Fazit:  lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de

 


Genre: Belletristik, Essay
Illustrated by Rowohlt

Reise nach Laredo

Schade eigentlich

In seinem neuen Buch «Reise nach Laredo» hat Arno Geiger die beiden Genres historischer Roman und eskapistischer Roadtrip trickreich miteinander verbunden. Sein Protagonist ist der sterbenskranke Kaiser Karl V, der sich nach seiner Abdankung 1556 in seinen Palast neben dem Kloster Yuste in Spanien zurückgezogen hat. Zwei Jahre später, in der letzten Nacht vor seinem Tod, träumt er von einer Reise ans Meer, die den Hauptteil dieser Erzählung von der späten Selbstfindung eines Menschen bildet. Er war in den 58 Jahren seines Lebens wie in einer Blase eingebunden in eine völlig abgehobene, höfische Gesellschaft fernab vom realen Leben.

Schon die erste Szene zeigt den alten Kaiser nackt, als ein Mensch wie jeder andere auch. Der übergewichtige, kaum noch gehfähige und von opiumhaltigem Laudanum abhängige alte Mann wird mit einer speziellen Vorrichtung in einen Zuber mit warmem Wasser gehoben, um sich darin reinigen zu können, bevor er zu Bett geht. In der folgenden Nacht träumt Karl, wie er einen Jungen aus dem Garten zu sich heranwinkt und mit ihm ein Gespräch beginnt. Der aufgeweckte Elfjährige ist sein illegitimer Sohn, der als Page zum Palast gehört, aber natürlich nicht weiß, dass der abgedankte Kaiser sein Vater ist. Karl fordert ihn auf, um Mitternacht mit zwei gesattelten Pferden an der Klosterpforte auf ihn zu warten, sie würden sich beide heimlich auf eine weite Reise begeben, – Geronimo ist hellauf begeistert. Auf der beschwerlichen Flucht begegnet Karl allerlei Menschen, er durchlebt schwierige Situationen und Entbehrungen und zahlt einen hohen Tribut für seinen Drang nach Freiheit, ohne es aber jemals zu bedauern oder gar an Umkehr zu denken.

Zu einer kritischen Situation kommt es, als sie einer Gruppe von Ganoven begegnen, die ein junges Geschwisterpaar von Cagots in ihrer Gewalt haben, also Angehörigen einer rechtlosen Minderheit, die sich durch einen Gänsefuß aus rotem Stoff an der Kleidung kennzeichnen musste. Das Mädchen kommt ihnen nackt und laut schreiend entgegengelaufen, der ältere Bruder ist an seinen Wagen gebunden und wird bestialisch ausgepeitscht. Karl geht dazwischen, zieht schließlich sogar seine Pistole. Ungewollt löst sich ein Schuss, und einer der Männer hat plötzlich ein Loch im Hut, – woraufhin die brutalen Kerle eiligst Reißaus nehmen. Eine alte Bäuerin nimmt sich des geschundenen jungen Cagots an und pflegt ihn mit verschiedenen Kräutern gesund. Zu viert ziehen sie anschließend gemeinsam weiter und landen schließlich in der Toten Stadt, wo ehemals Silber abgebaut wurde. Dort bleiben sie für längere Zeit in einem Wirtshaus, Karl beginnt zu trinken und wird von dem heimtückischen Wirt beim Kartenspiel ausgenommen, bis er schließlich pleite ist. Verzückt entdeckt Geronimo im Hof der Wirtschaft einen Greif, den er als Symbol der Freiheit bisher nur als Motiv in einem Wandteppich des Palastes kennt. Nach heftigem Streit mit dem Wirt, in dem auch der Greif eine Rolle spielt, ziehen Karl und Geronimo weiter und landen schließlich am Atlantik, in dessen Wellen der Traum endet.

Vor allem gehe es ihm, hat der Autor im Interview erklärt, um Karl als Mensch, als «Privatmann», der in seinem privilegierten Leben niemals auf das nackte Menschsein zurückgeworfen war, er ist «ein Versehrter», fügte er hinzu. Wie reagiert einer, der Krone, Macht und Ruhm hinter sich gelassen hat und Freundschaft, Liebe und Freiheit erstmals erlebte? Und der erfährt, wie hart und entbehrungsreich dieses einfache Leben wirklich ist. Dabei hilft thematisch die Figur des lebensfrohen Geronimo als unbescherter Gegenpart zum eingeengten, angepassten höfischen Dasein, wie es Karl immer nur erlebt hat. Was die philosophischen «Weisheiten» anbelangt, mit denen der trübsinnig machende Roman zahlreich aufwartet, erweisen sie sich meist als belanglose Plattitüden. Den Leser erwartet letztendlich ein stilistisch anspruchslos erzählter, langweiliger Plot ohne Erkenntnisgewinn. Schade eigentlich!

Fazit:   mäßig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Verletzlichen

Narratives Können und gedankliche Tiefe

Die amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez hat in ihrem neuesten Roman «Die Verletzlichen» die Zeit der Corona-Pandemie mit allen ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft thematisiert. Schon mit dem Buchtitel wird auf Covid 19 hingewiesen, denn vulnerabel waren nicht nur Alte und Vorerkrankte, unter dem Lockdown litten auch die medizinisch nicht betroffenen Menschen. Die Autorin und ihre namenlose Protagonistin sind beide Schriftstellerinnen im Alter um die siebzig, wohnen in New York, arbeiten als Dozentinnen für kreatives Schreiben. Sie sind kinderlos, beide unverheiratet geblieben, und sie lieben Tiere, quasi als die besseren Menschen. In diesem zeitlich im Frühjahr 2022 angesiedelten, autofiktionalen Roman markiert ein kleiner Papagei, ein grüner Ara namens Heureka, narrativ eine rote Linie durch den fast ereignislosen Plot, denn gerade diese Spezies leidet ebenso unter Einsamkeit wie der Mensch, kann daran sogar zu Grunde gehen.

Eine in einem anderen Bundesstaat lebende Freundin bittet die alternde Protagonistin, sich um einen Ara zu kümmern, der in einer luxuriösen New Yorker Wohnung ganz in ihrer Nähe Opfer des Lockdowns geworden ist. Denn sein mit ihr eng befreundetes Besitzerpaar wurde auf einer Reise von der Pandemie überrascht und kann nun wegen der strengen Restriktionen nicht mehr zurückkehren. Und so geht die Protagonistin täglich für mehrere Stunden in die fremde Wohnung, nicht nur um den Papagei zu füttern, sondern auch, um mit ihm zu spielen und zu ihm zu sprechen. Eines Tages ist plötzlich ein junger Mann in der Wohnung, der schon vor ihr den Vogel versorgt hatte und sich nun wieder um ihn kümmern will. Trotz des großen Altersunterschieds und dem anfänglichen Unmut zwischen den Beiden kommt es zu interessanten Gesprächen zwischen ihnen zu den verschiedensten Themen, wobei ihr lebhafter Gedanken-Austausch manchmal sogar durch gemeinsames Kiffen wohltuend beflügelt wird.

In der typisch amerikanischen, schnörkellosen Schreibweise verfasst, ähnelt dieses Buch durch seine Fülle an tiefgründigen Gedankengängen eher einem Essay als einer autofiktionalen Erzählung. Der Papagei dient der Autorin dabei als Katalysator für ihre Selbst-Beobachtungen zu Themen wie Älterwerden, Einsamkeit und Erinnern sowie den Schreibprozess als solchen, wobei sie auf Texte, Zitate und Äußerungen von berühmten und weniger bekannten Kollegen aus der schreibenden Zunft zurückgreift. Es ist ein Füllhorn literarischer Erfahrungen und Erkenntnisse, die sie unermüdlich vor dem Leser ausbreitet, immer eng verbunden mit dem Schreiben als schöpferische Tätigkeit, an der die raue Wirklichkeit gespiegelt wird. Wer halbwegs belesen ist, begegnet bei der Lektüre so manchem ihm wohlbekannten Schriftsteller. Man wird allerdings auch mit amerikanischen Autoren konfrontiert, deren Namen man noch nie gehört hat, die nicht auf der eigenen Leseliste stehen und deren Bedeutung man als an die deutsche Sprache gebundener Leser nicht einzuschätzen vermag. Sigrid Nunez trifft mit ihrem melancholischen Roman einen Nerv der Zeit, der die eigene Verletzlichkeit ebenso aufzeigt wie die vielen Leerstellen in den zwischen-menschlichen Beziehungen, die das Miteinander erschweren oder sogar völlig unmöglich machen.

Obwohl vom Stil her essayartig angelegt, wird diese allumfassende Erkundung des eigenen Innenlebens leichthändig, oft humorvoll und unterhaltend erzählt, ohne dadurch an Relevanz einzubüßen. Besonders stechen dabei die vielen Anekdoten der zitierfreudigen Autorin hervor, die pointiert fast alle Felder der Literatur abdecken. So ganz nebenbei gewähren sie viele erhellende Einblicke in eine Kunstgattung, die wie keine andere als unabdingbare Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung des Homo sapiens gelten muss. Narratives Können und gedankliche Tiefe verbinden sich hier auf unterhaltsame Weise zu einer lang nachwirkenden Lektüre.

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Wild nach einem wilden Traum

Der jüngst erschienene Roman «Wild nach einem wilden Traum» von Julia Schoch ist der letzte einer unter dem Titel «Biografie einer Frau» erschienenen, unabhängig voneinander zu lesenden Buchreihe. Auf dem Umschlag des Buches hat sie dazu erklärt: «Was ich in der Trilogie erzähle? Dass wir unterschiedliche Rollen im Leben haben und oft nicht wissen, was wir für andere sind. In den drei Büchern möchte ich Gerechtigkeit walten lassen. Ein Wunschtraum, vielleicht. Aber ein schöner.» Herausgekommen ist dabei zum Abschluss nun dieser autofiktionale Roman, in dem von einer Schriftstellerin aus Mecklenburg-Vorpommern erzählt wird, die an einem Kipppunkt ihres Lebens steht. Die namenlos bleibende Protagonistin des Romans erzählt in zwei Handlungs-Strängen von der Liebesaffäre mit einem Mann und von der für ihr Leben folgenreichen Begegnung als Mädchen mit einem jungen Soldaten.

Anlässlich eines Stipendiums in den USA lernt sie als angehende Schriftstellerin einen spanischen Kollegen kennen, der nicht müde wird zu betonen, er sei Katalane. Was sie als in der DDR aufgewachsenes Kind sehr erstaunt, war doch die Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten für sie ein endlich wahr gewordener, lang ersehnter Traum. Der ebenfalls namenlos bleibende Katalane hingegen träumt von der staatlichen Abtrennung seiner Region von Spanien. Sie ist fasziniert von diesem charismatischen Mann, der als Schriftsteller bereits sehr erfolgreich ist, und sucht bei den abendlichen Gesprächen der Stipendiaten seine Nähe. Denn er ist auch ein begnadeter mündlicher Erzähler, dem alle gern zuhören. Als er ihr wenige Tage später nach einem Abendessen per Handzeichen signalisiert, er erwarte sie in fünf Minuten in seinem Zimmer, folgt sie ihm ohne Zögern. Sofort, ohne jedes verliebte Vorgeplänkel, haben sie einfach nur rauschhaften Sex miteinander. Unmittelbar danach reden sie dann wieder über Literatur und das Schreiben, für das sie ja alle hierher gekommen sind, in die ablenkungsfreie Ruhe einer ländlichen Ödnis nahe New York.

Die Begegnung der damals zwölfjährigen Protagonistin mit dem jungen NVA-Soldaten aus der benachbarten Garnison am Stettiner Haff, in der auch ihr Vater als Offizier stationiert ist, markiert einen zweiten Kipppunkt ihres Lebens. Sie trifft ihn zufällig bei einem Spaziergang im Wald, wo er Pilze sucht, unterhält sich angeregt mit ihm, und bald treffen sie sich dann regelmäßig an gleicher Stelle. Er ist sehr an Literatur interessiert und bestärkt sie wirkungsvoll in ihrem «wilden Traum», eine Schriftstellerin zu werden. Beide Themen, die Liebe und die Schriftstellerei, werden in diesem Roman abwechselnd und in parallelen Handlungssträngen mit allerlei philosophischen Gedankengängen verknüpft. Erzählerisch auffallend distanziert, quasi nebenbei, erfährt der Leser dass die Protagonistin verheiratet ist, zwei Kinder hat, früher gerne mit ihrem Mann gereist ist und ihn jetzt nur noch manchmal zum Essen in einem Restaurant trifft. Mehr erfährt man nicht dazu!

Julia Schoch nähert sich ihrer Thematik völlig emotionslos. Der Katalane im Roman ist Liebhaber der Ich-Erzählerin für wenige Wochen, von einer verzehrenden Liebe ist hier nicht die Rede. Ihre Affäre mit ihm war letztendlich nur der Anstoß für die Protagonistin, ihr bisher eher langweiliges, angepasstes Leben neu zu  ordnen. Es geht um das Verstehen in diesem Roman eines Frauenlebens, um die Wechselwirkungen des Lebens und des Schreibens, letztendlich um die Frage, was wahr ist. Schafft das Schreiben eine neue Wahrheit? Verändert das Schreiben die Wahrheit? Ist Liebe Wahrheit oder Illusion? Ist Liebe überhaupt ein eindeutiger Begriff? Wie verändert Zeit die Liebe? Kann Literatur Wirklichkeit schaffen? In stilistischer Form des Bewusstseinstroms geht ein wahrer Regen an Fragen auf den Leser nieder, die ihn förmlich zu kontemplativer Mitwirkung anregen, vielleicht sogar dazu zwingen. Wenn Literatur das schafft, hat sie wahrhaftig ihren Zweck erfüllt!

Fazit:   erstklassig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München