„Ein großartiger Roman über das Durchschnittsleben eines Mannes“ resümiert Schauspieler Elyas M’Barek nach der Lektüre von John Williams Roman „Stoner“. Nicht dass M’Barek als der grösste Kenner und kompetenteste Literaturkritiker der Szene gilt, aber dieses Zitat bringt das Werk erstaunlich treffend auf den Punkt. Dieser Bewertung kann man sich – so viel vorweg – getrost anschliessen. Aber eine wichtige Frage bleibt unbeantwortet. Doch dazu gleich.
John Williams war ein US-amerikanischer Autor und Herausgeber. 1955 bis 1985 lehrte er als Dozent für Anglistik an der Universität von Denver. Mit diesem Stichwort aus seinem Lebenslauf ist man fast schon bei der Handlung seines Romanes, auch wenn Williams vorweg Erwartungen an autobiographische Parallelen herunterschraubt.
Stoner war Williams’ dritter Roman. Er handelt vom Leben eines einfachen Farmer-Jungen, der abweichend von der familiären Tradition studieren darf, allerdings relativ rasch ohne Wissen seiner hoffnungsvollen Eltern von seiner initialen Bestimmung eines Agrikulturstudiums zur Fakultät für Englische Literatur wechselt. Durch stille Strebsamkeit, Begeisterung fürs Fach, Talent, Fleiß und Ausdauer schafft er es zum Professor.
Das Gerüst dieser beruflichen Lebenslinie wird der kontinuierlichen Zeitachse folgend von einem Privatleben aufgefüllt, das die üblichen, zeitlosen Stereotypien aufweist. Schüchterner Dozent trifft schüchternes Mädchen, Heirat, Geburt einer Tochter, Kauf eines Hauses mit fast nicht schulterbarer Verschuldung, zunehmende Entfremdung der Ehepartner, Affäre mit einer Studentin, Mobbing am Arbeitsplatz, Tod der Eltern, ungewollte Schwangerschaft der Tochter mit – zu den damaligen Zeiten – zwangsläufig folgender Verehelichung, Alkoholabhängigkeit der Tochter. In fortschreitendem Alter Darmkrebsdiagnose und einsamer Tod des Protagonisten zwischen seinen geliebten Büchern.
Mit leichten Variationen also eigentlich allseits bekannte Variationen des gleichen Themas „Leben“ oder „Life as usual“. Wiedererkennungseffekte en masse.
Der Roman wurde 1965 erstmals in den USA veröffentlicht und fand kaum Anklang. Ein zweiter Versuch 1973 in England hinterließ ebenfalls keine nennenswerten Spuren. 2006 kam eine inhaltlich identische Neuausgabe auf den Markt. Das Buch wurde plötzlich von der Kritik wahrgenommen (darunter einige andere ausser M’Barek), erntete plötzlich höchstes Lob und entwickelte sich in kurzer Zeit zum Weltbestseller, der ab 2013 auch in deutscher Übersetzung zu haben war.
Und an dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Warum? Wie kam es zu diesem Erfolg im zweiten oder dritten Anlauf ungefähr 41 Jahre nach der Ersterscheinung?
Alles eine Frage des Zeitgeistes? Literarisch wertvoll waren der oft fast schon poetische Stil, die empathischen Formulierungen und die bildlich-atmosphärische Ausgestaltung bereits bei der Erstveröffentlichung. Der Charakter der Hauptfigur William Stoner mit seiner stoisch-ataraktischen Geisteshaltung und passiven Duldsamkeit findet sein literarisches Pendant im ruhigen, phasenweise vor sich hinplätschernden Verlauf der Geschichte. Sowohl Stil als auch Hauptfigur bleiben durchgehend authentisch und gradlinig, alles ergibt sich einfach, alles geschieht einfach. Das alles wurde nach 1965 nicht umgeschrieben.
Fehlte den Lesern (und Kritikern) Mitte der 60er und 70er Jahre der Sinn für die Schönheit seiner Sprache oder für die zielsichere und markanten Beschreibung einer Epoche US-amerikanischer Gesellschaftshistorie? War der Lebenslauf Stoners mit einer Bilderbuch-Karriere heraus aus der ländlichen Armut für damalige Zeiten vorbildhaft, vielleicht sogar ideal, in jedem Fall aber zu normal, um Aufsehen zu erregen?
Fiel dies alles im neuen Jahrtausend auf fruchtbareren Boden, da viele Leser mehr reflektierendes Metaebenen-Denken mitbringen und die Lebenssinn-Frage hinter jeder Ecke lauert? Empfinden die Menschen in den aktuellen Zeiten des Individualismus und der Singularitätsansprüche diese altmodisch-konforme Gestalt des William Stoner mit seinem aus heutiger Sicht oft so unglücklichen Leben als provozierende Reizfigur, da sie einem in vielen Abschnitten des Buches den Spiegel vorhält? In Augenblicken, in denen man beim Lesen nicht weiß, ob man Stoners Naturell und Verhalten nun bewundernswert oder empörend finden soll. In denen man mitleidet und mitfühlt. Eben wie man es von sich selbst kennt.