Die 1979 in Paris geborene Autorin Julie Estève erzählt die Geschichte eines Dorftrottels, der zu Unrecht als Mörder verurteilt wurde. Der Roman selbst ist bitter, er zeigt, wie abgrundtief hart menschliche Vorurteile verletzen und töten können.
Der Titel des Buches macht bereits deutlich, dass die Geschichte aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschildert wird. Dabei entsteht schon das erste Problem, denn der Narrator ist in diesem Fall ein geistig stark eingeschränkter Mann, der vollkommen in seiner eigenen Welt lebt. Antoine wird von den Dörflern nur als »Drecksungeheuer« und stinkender »Spasti« beschimpft und abgelehnt.
Die Mutter starb bei seiner Geburt, dies macht ihm der Bruder zum Vorwurf. Der Vater, ein arbeitsloser Trinker, hasst und verprügelt ihn. Von Gleichaltrigen gehänselt und als Dorftrottel geschmäht, kann Antoine nur bedingt die Welt »der Anderen« verstehen. Er ist zwar ein ausgezeichneter Beobachter und bekommt vieles von dem mit, was in einem Dorf gern unter den Teppich gekehrt wird. Der Autist ist aber unfähig, Gefühle anderer Menschen zu deuten und Zusammenhänge herzustellen.
Da Antoine vollkommen von seinen Mitmenschen isoliert ist und niemand mit ihm spricht, erzählt er seine Geschichte einem Plastikstuhl, den er mit sich herumträgt. Mit einem Stuhlbein als Gesprächspartner und einem Erzähler, der eine eigene, assoziativ-abgehackte Sprache spricht, hat die Autorin eine schwierige Perspektive gewählt, die es dem Leser nicht leicht macht.
Julie Estève löst die selbst gestellte Aufgabe allerdings mit Bravour und verleiht dem Jungen eine Stimme, die den Leser in Bann schlägt, so er sich auf Thema und Perspektive einlässt. Es lässt sich darüber streiten, ob die vulgär und selten geformte Sprache einem »Dorftrottel« entspricht, zumal der eigentlich gar nicht so dumm ist wie es scheint. Beurteilen lässt sich das objektiv wohl kaum. Auf jeden Fall entsteht mittels Sprache eine in sich geschlossene Welt, in der Brutalität und Lieblosigkeit vorherrscht, und das ist eine Leistung, die auch Christian Kolb, dem Übersetzer des französischen Originaltextes, einiges abverlangte.
Antoine setzt mit seiner Geschichte nach jahrelangem Gefängnisaufenthalt an. Er soll im Wald ein Mädchen getötet haben, das er verehrte und mit dem er Geheimnisse teilte. Aus der Sicht der Dörfler ist der Dorftrottel schuld an dem blutigen Massaker, das sich im Wald abspielte.
In den Erzählungen des Jungen wird hingegen deutlich, wie es zu der Tat kam, und so fiebert der Leser der Lösung des Rätsels entgegen. Denn ziemlich rasch wird klar: Antoine ist unschuldig und kennt den tatsächlichen Ablauf der Tat und die Mitwirkenden. Er hat sogar einen Zeugen, seinen besten Freund, ein originalverpacktes Diktiergerät, das er zärtlich »Magic« nennt. Dieser Freund weiß alles, er hat sogar die letzten Worte des toten Mädchens aufgezeichnet, doch Antoine nutzt die Aufzeichnung nicht zu seiner Entlastung.
Die Geschichte ist erschütternd und verlangt dem Leser eine gehörige Portion Kraft ab. Noch schwieriger aber wird der Roman durch die Klammer, mit der die Erzählung gehalten wird. Ein auktorialer Erzähler schildert das Begräbnis des Protagonisten und beginnt brachial: »Antoine Orsini ist tot, und es war nicht die Hitze, die ihn umgebracht hat.«
Fazit: Anspruchsvoll, ungewöhnlich, lesenswert