Aus Liebe zu Deutschland – ein Warnruf

Abdel-Samad ist in Ägypten geboren, lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Mich interessieren immer die Meinungen derer, die nicht hier geboren sind, aber unser Land gut kennen. Aus der anderen Perspektive sieht man vieles besser, das indigene Deutsche gar nicht wahrnehmen, weil es für sie selbstverständlich ist.

In seiner Jugend hat Abdel-Samad erlebt, dass Fragen, andere Meinungen, ein absolutes No-Go waren. Er kam nach Deutschland, weil er sich dort diese Freiheiten erhoffte. In diesem Buch schreibt er über Deutschland, das er liebt, aber auch über die Probleme, die er wahrnimmt.

»Deutschland ist das Produkt all dessen, was auf seinem Boden geschah, und es ist die Stimme aller Menschen, die hier leben. Es gibt für mich nur ein Deutschland, das viele Gesichter hat und viele Widersprüche vereint. […]

Ich stellte fest, dass Deutschland mir sehr ähnlich war. Wir haben beide einen sehr langen Weg zurückgelegt. Ein Weg, der von Selbstüberschätzung Zerrissenheit, Wut, Aggression, Selbsthass und Schuldgefühlen, aber auch von Selbstkritik, Selbstverantwortung und Selbstüberwindung gekennzeichnet ist. […]

Ich möchte Ihnen, liebe Leser, mein Deutschland näherbringen. Ich will Ihnen erklären, was ich an diesem Land so schätze, will Ihnen aber auch meine Sorgen über das, was gerade in Deutschland geschieht, nicht vorenthalten, […]

Man muss nur Begriffe wie »Klima«, »Greta«, »Flüchtling«, »Islam«, »Brexit«, »Corona«, »Trump« oder den Namen eines anderen Politikers, egal aus welchem Lager, nennen, dann wird sofort mit Leidenschaft verspottet, unterstellt und gedroht. Aus allem wird ein Politikum, selbst aus der Wahl des Christkindes in Nürnberg, weil das Mädchen einen Migrationshintergrund hat.«

Mittlerweile ist selbst über die Frage, ob ARD und ZDF mehr Geld bekommen sollen, ein Glaubenskrieg entbrannt.

Hamed Abdel-Samad beginnt sein Buch mit der Frage »Wer sind wir?« und der Diskussion darüber, was die deutsche Identität geprägt hat. Das ist in Deutschland ganz besonders brisant. Interessanterweise ist das auch einem anderen Fremden aufgefallen, der aus Hawaii nach Deutschland kam, nämlich Eric Hansen, der in seinem Buch »Planet Germany« schrieb: »Der beste Beweis dafür, dass man noch deutsch ist, ist die Angst, man sei es nicht mehr« und ebenfalls ausführte, dass Deutsche ein besonderes Problem mit ihrer Identität hätten.

Abdel-Samed begründet das mit der Geschichte, Deutschland begann als »Heiliges Römisches Reich«, das die Wiedergeburt des Römischen Reichs und der Hort der Christenheit sein sollte. Die deutsche Nation wurde erst Jahrhunderte später in den Namen aufgenommen. Ganz schön größenwahnsinnig, nicht wahr?

Dann kam die Katastrophe des Dreißigjährigen Kriegs, der Deutschland verwüstete und in zwei Teile spaltete. Später das Dritte Reich, das das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wiederaufleben lassen wollte, aber die Deutschen (und ganz Europa mit) erneut in eine Katastrophe stürzte. Das lässt die Deutschen bis heute nicht los.

»Die Kulturnation, die einen Zivilisationsbruch begangen hat. Die im 20. Jahrhundert sechs Millionen Juden vernichtete und im 21. Jahrhundert die Grenzen für Millionen Flüchtlinge öffnete. Das Land von Goethe und Goebbels, von Hitler und Hesse, von Karl Marx und Carl Benz, von Luther und von Loriot. […] You can’t have one without the other.«
Jedes Mal, wenn Deutschland in die Katastrophe geführt wurde, stand dahinter ein vereinfachtes Bild von Deutschland, das auf Ambivalenz und Zweideutigkeit verzichtete.

Und für diese Ambivalenz ist Meinungsfreiheit unverzichtbar.

»[Die Freiheit] ist kein Wunschkonzert, wo man hört, was man gerne hat, sondern wie eine Fußballarena, die von Menschen lebt, die gut und gerne spielen. Es wird dort gerungen, geschubst und gelegentlich gefoult. Man kann nicht die Arena betreten, um mitzuspielen, und dann von der gegnerischen Seite verlangen, nicht auf sein Tor zu schießen.«

Diese Meinungsfreiheit sieht der Autor in den letzten Jahren in Gefahr. Nicht, weil der Staat uns der Zensur unterwirft, unbotmäßige Bürger ins Gefängnis sperrt. Sondern weil die Deutschen selbst diese Freiheit immer mehr aufgeben.

Die Bürger ertragen keine abweichenden Meinungen mehr, suchen nicht mehr die Meinungen der Anderen zu widerlegen, sondern moralisch abzuqualifizieren. Und hegen die Erwartung, dass jeder, aber auch jeder, einem Lager zugehört. Wer nicht die Meinung der eigenen Filterblase teilt, ist der Böse, entweder ein rotgrün-versiffter Gutmensch oder ein rassistischer Rechter. Aber:

»Wer übertriebene politische Korrektheit kritisiert, heißt nicht automatisch Diskriminierung gut. Und wer Probleme bei der Integration benennt, ist nicht automatisch in der rechten Ecke zu verorten. […]

Wir scheinen vergessen zu haben, dass der Widerspruch ein wichtiger Teil einer Streitkultur ist und ein Lebenselexier der Demokratie […], wenn man bereit ist, andere Meinungen auszuhalten und sie nicht von vorneherein mit Verboten zu belegen. Hasserfüllte und rassistische Äußerungen sind keine Meinungen. Umgekehrt sind kritische und sogar ablehnende Haltungen gegenüber dem Islam und der Migration nicht automatisch als Hassrede und Rassismus zu betrachten.«

Leider muss ich Abdel-Samad recht geben. Mittlerweile gibt es auf Facebook Apps, die genauestens kontrollieren, was die eigenen Freundinnen oder Freunde liken. Offenbar finden manche die Praktiken der NSA toll. Statt den Inhalt der Meinungen beurteilt man die Personen, die sie äußern. Ist es einer, dessen Bruder mal mit jemandem im Café saß, dessen Schwager in der AfD ist, dann ist seine Meinung von vorneherein falsch.

Ich habe es erlebt, wenn ich einen Zeitungsartikel der NZZ verlinkt hatte, dass ich darauf hingewiesen wurde, die Zeitung sei rassistisch und deshalb jede Diskussion über den Artikel unmöglich. Auch bei anderen Zeitungsartikeln ist mir das passiert. Eine Bekannte hat sich nach dem Inhalt eines Buches erkundigt und ihr wurde mitgeteilt, dass es ein Rechter geschrieben habe und deshalb besser nicht gelesen werden sollte.

Wie unsicher muss eine Identität sein, wenn sie schon durch eine einzige andere Meinung ins Wanken gerät? Wie unsicher muss sich eine Gruppe in ihrer Identität sein, wenn sie jede andere Meinung als »Lügenpresse« verteufelt? Deutschland hochhält, sich aber weigert, mit deutschen Journalisten zu reden?

Mit Journalisten, die ja bekanntlich alle die »Lügenpresse« vertreten, darf man als Pegidist oder Querdenker nicht reden, und die Zahl der Zeitungsartikel, die betonen, dass man als Linker nicht mit Rechten reden darf, ist Legion. Hamed Abdel Samed muss mittlerweile unter ständigem Polizeischutz leben, in gepanzerten Autos zu Vorträgen fahren, weil er den Islam kritisiert hat und auf Todeslisten von Islamisten steht.

Aber wenn er wieder die Wahl hätte, er würde das Gleiche wieder schreiben. Meinungsfreiheit muss wahrgenommen werden, eine plurale Gesellschaft braucht unterschiedliche Meinungen. »Wir werden als Gesellschaft immer vielfältiger, doch die Meinungen werden einseitiger, polarisierender.«

Mich wundert auch seit langem, dass einerseits gerade die Diversität so betont wird, andererseits viele Panik bekommen, sobald sie diverse Meinungen lesen, die vom Mainstream abweichen. Aus Angst, man werde von den Gegnern der Meinungsdiversität ausgegrenzt, sagen viele ihre Meinung nicht mehr – oder nur hinter vorgehaltener Hand. Meinungsfreiheit kann auch so verloren gehen, da braucht es keine Zensur mehr.

Sawsan Chebli bezeichnete Hamed Abdel-Samed als »Hetzer«. Er selbst sie als »Vertreterin des politischen Islams«.

Das Erstaunliche: Die beiden haben miteinander geredet. In Zeiten, in denen viele verkünden, man dürfe mit denen aus der anderen Blase nicht reden. Sie haben miteinander diskutiert, inhaltliche Differenzen dargelegt und auch das eine oder andere festgestellt, wo sie übereinstimmen.

Sie sind immer noch unterschiedlicher Meinung. Viele erwarten, dass nach einer Diskussion alle einer Meinung sind, dass dann, wenn überzeugende Argumente (in der Regel die eigenen) vorgelegt werden, der Andere zustimmen muss.

»Wie kann eine Verständigung gelingen? Sie scheitert daran, dass ein fairer, ehrlicher Diskurs fehlt. Der Diskurs fehlt, weil Vertrauen nicht vorhanden ist. Das Vertrauen ist nicht vorhanden, weil jede Seite die andere anklagt, ohne sich für deren Sorgen und Interessen zu öffnen. Intolerant und verschlossen sind immer nur die anderen. Alle setzen auf den Rückzug in die eigene Komfortzone. Ressentiments, Anspruchsmentalität, moralische Überlegenheit, Angst, Misstrauen und Hass vergiften das Klima und verhindern den fairen Dialog und das friedliche Miteinander.«

Eine Diskussion mit Anhängern anderer Grundhaltung ist immer schwierig und anstrengend. »Das Gespräch mit Sawsan Chebli verlangt mir nicht nur an dieser Stelle Selbstbeherrschung ab, denn vieles, was sie sagt, ist provokativ und entspricht nicht meiner Sicht der Dinge. Sie hielt mich lange für einen Hetzer und ich […] sie für eine Steigbügelhalterin des politischen Islams.« Um so bewundernswerter, dass beide miteinander gesprochen haben.

Der Autor hat zahlreiche Personen befragt, vom Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck bis zum Spiegel-Kolumnisten Sascha Lobo, von der Autorin Thea Dorn bis zum Autor Henryk M. Broder und zahlreichen anderen.

Man sollte unterscheiden zwischen einer Person und der Meinung der Person, genauso wie man zwischen dem Autor und seinem Buch unterscheiden muss. Wenn statt der Meinung die Person angegriffen wird, ist eine Diskussion unmöglich. Es ist wichtig, die Leute zu bekämpfen, die die Meinungsfreiheit angreifen und am liebsten alle abweichenden Meinung verbieten wollen. Genauso wichtig ist es auch, jene wertzuschätzen, die anderer Meinung sind, eine andere Sicht auf die Dinge haben, aber die Meinungsfreiheit akzeptieren. Die Spaltung verläuft nicht zwischen Muslimen und Christen, nicht zwischen Rechten und Linken, nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Sondern zwischen Anhängern der Meinungsfreiheit und deren Gegnern.

»Deutsch-Sein bedeutet für mich heute, für Freiheit und Vielfalt einzustehen und gegen jede Form von Bevormundung, Einschüchterung und Extremismus einzutreten, egal aus welcher Ecke sie kommen. Deshalb habe ich auch dieses Buch geschrieben.«

Das Buch habe ich an zwei Abenden ausgelesen. Es hat mich fasziniert, diese vertraute und gleichzeitig fremde Sicht auf mein Land. Ich habe gleich mehrere Freunde und Bekannte damit infiziert, die es ebenfalls gelesen, sich bestellt haben.

Eine Liebeserklärung nicht nur an Deutschland, sondern auch an die Meinungsfreiheit. Wie wichtig unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Perspektiven sind, wie anders sich Deutschland plötzlich wahrnehmen lässt, wenn man den Mut hat, auch mal die andere Perspektive ernst zu nehmen.

Und eine gelungene Übersicht über die deutsche Ideengeschichte und wie sie heute immer noch Deutschland prägt – wenn auch meist unbewusst.

Für mich das wichtigste Buch 2020.

Aus Liebe zu Deutschland, dtv Verlagsgesellschaft 2020,

ISBN 978-3423282475, 224 Seiten, 20 €

Sawsan Chebli: https://www.facebook.com/sawsan.chebli.5

Hamed Abdel-Samad: https://www.facebook.com/hamed.abdelsamad

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by dtv München

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