Auf dem Gipfel sinnlosen Tuns
Der Mount Everest bildet so etwas wie den Kulminationspunkt in Thomas Glavinics neuem Roman «Das größere Wunder». Schon das Umschlagfoto lässt keinen Zweifel daran, hier geht es ums Bergsteigen der extremen Art, und gleich die ersten Sätze bestätigen diese Vermutung, wenn von Sherpas die Rede ist, vom Basislager und von Toten, die vorbeigetragen werden. Normalerweise würde ich mich da, um im Jargon der Alpinisten zu bleiben, sofort ausklinken aus dem Führungsseil, das Buch also ungelesen zu Seite legen, weil mich todesmutige Extremkletterer nun mal überhaupt nicht interessieren, sogar ziemlich abstoßen mit ihrer fatalen Sucht nach Selbstbestätigung, nach Nervenkitzel, nach Todesnähe. Schon nach wenigen Seiten aber, im zweiten Kapitel, wechselt der Erzählstrang zu einer fürwahr haarsträubenden Geschichte hin, der Jugend des Protagonisten Jonas nämlich und seiner anschließenden, rastlosen Sinnsuche, die den Leser in einem aberwitzigen Plot unwillkürlich in ihren Bann zieht. Er dürfte Glavinic-Fans schon aus den beiden vorher erschienenen Romanen diese Trilogie bekannt sein, «Die Arbeit der Nacht» und «Das Leben der Wünsche», das vorliegende Buch ist aber eigenständig zu lesen, es baut nicht auf die vorhergehenden Romane auf.
Es gehört unzweifelhaft zu den angestammten Privilegien von Romanautoren, die Realität nach Gutdünken ausblenden zu können, völlig irreale Traumwelten zu ersinnen, dem Leser also eine Welt zu schildern, die es so nicht gibt und geben kann. Davon wird ja nicht erst seit Karl May Gebrauch gemacht, wo jeder insgeheim selbst Old Shatterhand ist, solange er das Buch in Händen hält. Und solche Identifikationsmuster liefert uns hier auch Galvinic mit seinem faustischen Helden Jonas, der über unerschöpflich scheinende Geldmittel und überirdische Fähigkeiten verfügt und beides dazu nutzt, permanent Grenzerfahrungen zu machen, den Sinn des Lebens herauszufinden im absurden Selbstexperiment. «Nichts ist unmöglich» ist die Devise bei seinem skurrilen Selbstfindungstrip rund um den Erdball, sorglos probiert er alles aus ohne Angst vor dem Tod, und das alles kulminiert am Ende des Romans in der erfolgreichen Besteigung des Mount Everest, bei der denn auch die bis dahin immer schön kapitelweise getrennt erzählten Stränge der Handlung zusammenmünden. Dass es die Liebe ist, nach der er unbewusst gesucht hat, die große, einmalige natürlich, ist vorhersehbar, kitschig und höchst peinlich.
Die viel zu ausufernd erzählte Bergsteigerstory mag Alpinisten erfreuen, der Laie, wie ich einer bin, langweilt sich hingegen und grübelt häufig, ob das wirklich alles so stimmen kann, wie der Autor es schildert. Die Hundertschaften von Himalaya-Verrückten machen jedenfalls wütend in Hinblick auf die Umweltzerstörung, die da angerichtet wird auf dem Dach der Welt. Der Held in Glavinics haarsträubender Geschichte in der zweiten Erzählebene versteht mühelos fast alle Sprachen der Welt und spricht die meisten auch, er reist der Sonnenfinsternis rund um den Erdball hinterher, lässt sich ein fünfstöckiges Baumhaus und einen Viermast-Segler bauen, kauft sich eine Südseeinsel, hat diverse Wohnungen in den Metropolen, die er nur selten nutzt, aber auch eine in der Nähe von Tschernobyl. Und natürlich fliegen auch viele Frauen auf ihn, na und die letzte, Marie, ist es dann, auf die alles hinsteuert, unser moderner Faust ist letztendlich am Ziel seiner Suche nach der Wahrheit.
Wer nicht den Fehler macht, ernst zu nehmen, was er da liest, wer das Ganze als zuweilen sogar spannendes Märchen liest, wer nicht erschreckt, wenn nur zur Gaudi eine Ziege mit der Panzerfaust erschossen wird, einem unsensiblen Zahnarzt zur Strafe alle Zähne gezogen werden, ohne Betäubung, versteht sich, der wird vielleicht gut unterhalten in diesem Roman, als Alpinist möglicherweise sogar sehr gut.
Fazit: mäßig
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