100 Jahre Alice Miller

100 Jahre Alice Miller. Die 1923 in Lwiw als Alicja Englard geborene Psychologin wäre Anfang diesen Jahres 100 Jahre alt geworden. Ein guter Anlass auf das schriftstellerische Werk der aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgetretenen „Kindheitsforscherin“ zurückzublicken. Zeit ihres Lebens hatte sie sich gegen autoritäre Machtstrukturen und für wahre Kommunikation eingesetzt und war dafür von vielen missverstanden worden. Dabei war sie immer auf Seiten der Schwächsten: den Kindern.

Christiane F. und Adolf H.: zwei deutsche Schicksale

Das Drama des begabten Kindes (1979)

Nicht nur in Psycholog:innenkreisen waren ihre Werke wie “Das Drama des begabten Kindes” (1979), “Am Anfang war Erziehung“(1980) oder “Du sollst nicht merken” (1981) Pflichtlektüre und quasi Kult. Denn Alice Miller war eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen schlimmer Kindheit und späterer Grausamkeit (etwa bei Diktatoren) untersuchte. Legende ist etwa ihre Abhandlung über Adolf Hitler in “Am Anfang war Erziehung” in der sie auf den Narzissmus und den Größenwahnsinn des Gröfaz eingeht und ihn anhand seiner Kindheitserfahrungen erklärt. Natürlich nicht um ihn zu entlasten, sondern herauszufinden, was ihn auch mit anderen Diktatoren verband, die die Welt seit jeher heimsuchten. Das war damals – Anfang der Achtziger – noch vollkommenes (psychologisches) Neuland und Miller wurde von ihren Kollegen anfangs nicht ernst genommen. Aber was sie bei ihren Untersuchungen zu Tage förderte, war ein durchwegs logisches Gedankengebäude, das nachvollziehbar erklärte, wie Hitler ein ganzes Volk für seine unaufgearbeiteten Kindheitstraumen in Geiselhaft nahm. Auch einem anderen damals sehr breit diskutierten deutschen Schicksal widmete sie sich in ihrem Erziehungsbestseller: Christian F. Die weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt Berlin hinaus bekannte Drogensüchtige (“Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) litt unter einem ebenso gewalttätigen Vater wie AH, aber ihr Trauma führte nicht zur Destruktivität, sondern zur Autodestruktivität durch die Droge Heroin. Christiane hätte früh lernen müssen, dass Liebe und Anerkennung nur mit der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Regungen und Gefühle (wie Haß, Ekel, Widerwille) zu erkaufen seien, also um den Preis der Selbstaufgabe, schreibt Miller. Ihr ganzes Bestreben sei deswegen dahingegangen, diese Selbstaufgabe zu erreichen, d.h. “cool zu sein“. Wie die Eltern früher mit Hilfe des Schlagens die Gefühle des Kindes nach ihren Bedürfnissen erfolgreich unter Kontrolle bekommen hätten, so versuchte jetzt das zwölfjährige Mädchen, Christiane, ihre Stimmungen mit Hilfe von Drogen zu manipulieren und ihre jugendliche Lebendigkeit unter Kontrolle zu bekommen. Damit sei die “Tötung des Lebendigen“, das eigentlich, was das Leben eines gesunden Kindes ausmache, erfolgreich abgeschlossen worden, was AM in einer Kapitelüberschrift treffend als “Vernichtungskrieg gegen das eigene Selbst” auf den Punkt bringt. Christiane F. selbst beschreibt es als Triumph “normal” zu sein: nämlich ohne Gefühle. Unser Erziehungssystem sei eben auf Anpassung, Hörigkeit und Unterwürfigkeit ausgerichtet, wie das Leben in Gefängnissen: Hausarrest als Erziehungsmethode oder eben Freiheitsentzug. Die “Ideologie der Unterdrückung und Manipulierung des Lebendigen” habe in unserer Gesellschaft den höchsten Wert. Schreber-Erziehung nannte man das damals.

Die Sprache des Körpers: Krankheit

Die Revolte des Körpers (2005)

Alice Miller machte sich im Laufe ihres späteren Lebenswerkes vor allem daran, den Grund für diese Ideologie herauszufiltern und widmete sich fortan dem Kampf gegen das IV. Gebot. Die “Ehr-Furcht” vor den Eltern, die darin – im IV. Gebot – ausgedrückt werde, sei die Grundlage für die Unterdrückung und Deformation unserer Kinder und damit mitverantwortlich für die Verheerungen unserer Gesellschaft durch Diktatoren wie Hitler oder Krankheiten wie Drogensucht u.ä. Natürlich war dies provokantes Material, das Alice Miller da servierte und das stieß naturgemäß auf sehr viel Widerstand – vor allem von Eltern. Aber ihr Ideengebäude ist durchaus schlüssig. So schrieb sie etwa in “Die Revolte des Körpers” (2005), dass das Vierte Gebot durchaus als Lebensversicherung für alte Menschen gesehen werden könne. Die destruktive Macht des Vierten Gebotes bestehe nämlich gerade darin, Kinder im Namen der bedingungslosen Liebe zu angepassten, unterwürfigen und hörigen Wesen zu machen, die niemals die Autorität der Eltern in Frage stellen dürften. Die Idealisierung von Vater und Mutter würden zur Unterdrückung des wahren Selbst führen und dies wiederum zu Krankheiten. Da authentische Gefühle nicht ausgelebt werden dürften (siehe oben Christiane F.), sondern Schein, Zwang, Fassade, Maske und Selbstbetrug verlangt würden. Aber der Körper merke sich all das und speichere das. Sein Verlangen nach Wahrheit kann niemals betrogen werden, Miller nennt es das “Körperbewusstein“, die Sprache des Körpers ist die Artikulation einer Krankheit. So kann Krankheit aber auch als Chance begriffen werden. Anhand einiger weiterer Celebrities wie etwa Dostojevski, Tschechow, Kafka, Proust oder Nietzsche exerziert Miller ihre Vorstellungen durch und beweist mit diesen “Fallbeispielen” die Richtigkeit ihrer Thesen. Über Arthur Rimbaud schreibt sie etwa: “So verbringt er sein Leben mit der ständigen Suche nach seiner eigenen Wahrheit, die ihm verborgen bliebt, weil er sehr früh gelernt hat, sich selbst für das zu hassen, was seine Mutter ihm angetan hat.” Seine Suche nach der Liebe endete im Gefängnis der Kindheit. Das “Karussell der Gefühle” bestehe für viele darin, ihr Leben lang so zu sein wie ihre Eltern es von ihnen verlangten, um jene “Illusion der Liebe” nicht zu verlieren, die die Kindheit prägte. Mit weiteren weniger prominenten Fallbeispielen untermauert Miller dann ihre Theorie, dass auch die Vergebung nicht zur Heilung führen könne. Rimbauds Flucht- und Befreiungsversuche seien gescheitert, weil er keinem Menschen begegnet sei, der ihm die destruktive Wirkung seiner Mutter vollständig zu erkennen gab. Auch er habe “das Loch, das die Mutter hinterließ” mit Drogen zu füllen versucht, nur um später immer wieder zu ihr zurückzukehren. “Weshalb aber fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern? Warum bleiben wir an Beziehungen kleben, die uns an alte Qualen erinnern?” Fragen, die sich nicht nur Alice Miller stellte und wohl jeder für sich beantworten wird lernen müssen.

Wider das Vergessen – wider das Verzeihen?

Abbruch der Schweigemauer (2003)

In “Abbruch der Schweigemauer” (2003) spricht sie sich selbst und anderen Mut zu, auch ihre Eltern in Frage stellen zu dürfen. Denn jeder von uns sei “Opfer von verborgenen oder manifesten Misshandlungen, die häufig harmlos Èrziehung´ genannt werden“. Miller tritt auch ihren Kampf gegen eine Psychoanalyse an, die ihre Klient:innen bevormundet und mit Medikamenten das Gedächtnis zerstört. Denn man müsse erinnern, was man verdrängt habe, um sich zu befreien, auch von Krankheiten. Man müsse die Türen zur Vergangenheit öffnen, statt sie verriegelt zu halten, schreibt sie und nicht, wie viele Psychoanalytiker:innen, vor der “eigenen schmerzhaften Kindheitsgeschichte auf Kosten des Patienten” ausweichen. Gerade der Faschismus habe gezeigt, dass der unbewusste Zwang, verdrängte Verletzungen zu rächen, stärker sei als jede Vernunft. Es liege deswegen im Interesse der gesamten Gesellschaft, die “verborgene Geschichte der Zerstörung” nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten, denn an die Oberfläche käme sie ohnehin eines Tages, nur dann eben pervertiert. Hitler habe die Allüren einer bedrohlichen Vaterfigur trefflich geschauspielert und seinen eigenen Judenhass einer ganzen Gesellschaft als Ventil für die eigenen Frustrationen der Kindheit und Erziehung, zur Verfügung gestellt. Deswegen seien ihm die Massen nachgelaufen, weil jeder einzelne sich so von den Schlägen seiner Eltern an den Juden rächen konnte. An Nicolae Ceausescu macht Miller in “Abbruch der Schweigemauer” nochmals alles das deutlich, was Schläge in der Kindheit anrichten können und welche verheerenden Konsequenzen daraus erwachsen: Das rumänische Grauen war entsetzlich, besonders gerade für Kinder. “Wege des Lebens” (2007) zeigt anhand einiger Fallbeispiele von Lebensschicksalen normaler Menschen in Briefen und Selbstzeugnissen, wie die Wege des Wiederholungszwangs verlassen werden können und was getan werden kann, um die innere Freiheit wiederzuerlangen. “Was meine Seele nicht wissen wollte, hat sich mein Körper gut gemerkt“, scheint der rote Faden zu sein, den Alice Millers “Geschichten” in diesem Band verbindet. In ihrer Zusammenfassung am Ende ihrer Ausführungen bringt sie nochmals ihre wichtigsten Thesen auf den Punkt. So erzählt sie etwa von der Feeling-Sekte und erklärt wie Führungsstrukturen mit Gurus funktionieren und wie man Menschen dank der Regression beherrschen kann. Genau wie ein Führer bietet sich auch der Guru als väterliche Rettungsfigur an, der die Frustrationen der Kindheit wieder gut machen könne. Miller erklärt es auch mit Hilfe des sog. Wiederholungszwangs: Unbewusste Erinnerungen würden Menschen dazu treiben, “die verdrängten Szenen immer wieder aufs neue zu reproduzieren, um sich so von Ängsten zu befreien, welche die frühen Misshandlung zurückgelassen haben“. Der Betreffende schaffe mit Vorliebe immer wieder solche Situationen, in denen er den aktiven Teil übernehme, “um der Ohnmacht des Kindes Herr zu werden und den unbewussten Ängsten zu entfliehen“.

Nur die Wahrheit kann uns retten

Past behavior predicts future behavior, wie es in der Kriminalpsychologie heißt. Wer in seiner Kindheit aber das Glück habe, von wissenden oder helfenden Zeugen begleitet zu werden, würde später seine Frustrationen tendenziell weniger an anderen auslassen, als Menschen die keine solchen Zeugen gehabt haben. So sei es Christiane F. immerhin gelungen, niemand anderen in ihr Elend zu ziehen, während Adolf Hitler gleich mehrere Millionen in seinen eigenen persönlichen Abgrund zog. Bestenfalls hätte aber Kommunikation und ehrliche Zuwendung beide Schicksale – jenes der Autodestruktivität und jenes der Destruktivität – verhindern können: “Indem wir auf die Suche nach der Wahrheit verzichten, retten wir die Liebe nicht, auch nicht die Liebe zu unseren Eltern. Der Akt der Verzeihung hilft uns nicht, solange er das Geschehene verschleiert. Denn Liebe und Selbstbetrug schließen einander aus. Aus der Unwahrheit, der Leugnung des Leidens in der eigenen Vergangenheit, ist der auf Unschuldige verschobene Haß geboren. Er ist eine Bindung an den Selbstbetrug und eine Sackgasse. Echte Liebe erträgt die Wahrheit.”

Alle Zitate stammen aus den bei Suhrkamp erschienenen Werken von Alice Miller.

100 Jahre Charles Bukowski

Am 16. August 2020 würde der amerikanische Schriftsteller Charles Bukowski (eigentlich: Henry Charles Bukowski, Jr.) seinen 100. Geburtstag feiern. Der Sohn eines US-Besatzungssoldaten und einer Deutschen veröffentlichte ab 1960 Prosa und bis zu seinem Tod am 9. März 1994 mehr als vierzig Bücher (Romane, Gedichte, Prosa).

Im rheinischen Andernach geboren wurde Bukowski bald zum US-Amerikaner, da die Familie nach Los Angeles umzog. Seine Wanderjahre als Jugendlicher und junger Erwachsener brachten ihn aber auch in Städte wie New Orleans, Miami Beach, New York, Atlanta, Chicago und Philadelphia. Als physisch und mental untauglich für den Militärdienst eingestuft und nach Psychiatrie- und Gefängnisaufenthalten fing Bukowski im Alter von 34 Jahren an zu schreiben. Er arbeitete als Briefsortierer bei der Post von Los Angeles und lebte in East Hollywood deren Bewohnerinnen und Bewohner er in seinen Kolumnen für The Outsider oder Open City liebevoll porträtierte. Im deutschen Sprachraum erschienen diese gesammelten Kurzgeschichten unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Außenseiters“ (Notes of a Dirty Old Man) erstmals bei Fischer 1970.

Bukowski “Mädchen für alles”

Aus seinem umfangreichen Werk habe ich mir drei Romane ausgesucht, die sich jeweils einem bestimmten Jahrzehnt seines doch etwas kurzen Lebens widmen. Der 1975 im amerikanischen Original und 1977 bei dtv auf Deutsch erschienene Roman „Faktotum“ zeigt den Gossendichter als „weißen Penner im Negerviertel“ in seiner Jugend, in der er sich mit „Studentenjobs“ abplagt, da er gerade von zuhause rausgeworfen wurde. Voller Ironie beschreibt er das Verhältnis zu seinen Eltern, wenn er über den Rauswurf schreibt: „Ich konnte mir die Preise im Elternhaus nicht leisten“. Sein Vater verrechnete ihm alle Ausgaben extra. Sein alter ego Henry Chinaski veröffentlicht aber bald seine erste Kurzgeschichte und die Weichen für sein künftiges Leben werden gelegt: „Trinken und ins Bett steigen, das war wirklich alles, was wir tun konnten“. Mit lakonischem Humor arbeitet sich Chinaski durch diverse frustrierende Jobs, aber er erzählt auch von Solidarität, als ihm ein paar Mitarbeiter bei einer Jalousienwette zum Sieg gegen den ausbeuterischen Barbesitzer verhelfen. Bukowski schreibt also durchaus auch von Hoffnung und Menschlichkeit in düsteren, aussichtslosen Zeiten. „Faktotum“ bedeute im Amerikanischen übrigens so viel wie „Mädchen für alles“.

Dilemma: Trinken oder Frauen

In „Das Liebesleben der Hyäne“, 1978 im Original und 1989 bei dtv, ist Henry Chinaski bereits in seiner zweiten Lebenshälfte angelangt und hat schon einige schriftstellerische Erfolge hinter sich, sodass er nicht mehr bei der Post (beschrieben in: Der Mann mit der Ledertasche) arbeiten muss und sein Hobby zum Beruf machen kann.

Als roter Faden zieht sich seine Beziehung zu Lydia Vance durch den Roman, die sich aber bald über seine mangelnden „Steherqualitäten“ beschwert. Der Alkoholismus, dem er seit seinem 40. Geburtstag frönt, fordert seinen Tribut. „Wäre ich als Frau zur Welt gekommen, wäre ich mit Sicherheit Prostituierte geworden“, schreibt er an einer Stelle, denn sein Seelenleben war ihm wichtiger als eine Beziehung. „Frauen, die etwas taugten, machten mir angst, weil sie irgendwann etwas von meiner Seele wollten. Und was mir davon noch geblieben war, wollte ich selbst behalten. Also hielt ich mich an Flittchen und Prostituierte.“ Also widmet sich Chinaski lieber doch dem Alkohol. „Wenn etwas Schlimmes passiert, trinkt man, um es zu vergessen. Wenn etwas Gutes passiert, trinkt man, um zu feiern. Und wenn nichts los ist, trinkt man, damit etwas passiert.“ Wenn man an 300 Tagen im Jahr verkatert aufwacht, werde man eben paranoid, so Bukowski über Chinaski. Seine US-Lesetourneen – von denen dieser Roman hauptsächlich handelt – sorgen jedenfalls immer für Nachschub seines Lebensinhalts: Frauen und Alkohol.

Von Andernach nach Hollywood

Sein Roman „Hollywood“ ist Barbet Schroeder gewidmet und man weiß gleich, dass es hier um sein Drehbuch zu „Barfly“ (1987) mit Mickey Rourke in der Hauptrolle gehen wird. Bukowski ist inzwischen um die 60 Jahre alt und kann sich endlich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Er kann sich mit seiner Frau sogar ein Haus kaufen und bewegt sich im Umkreis von reichen Franzosen, die in den Slums von L.A. leben. „Das Leben beginnt mit 65“, schreibt er 1985. 10 Jahre später, im Alter von 73 Jahren starb der “deutsche Dichter“  Charles Bukowski an Leukämie in einem Krankenhaus in L.A..

Eine “zeitgenössische” Interpretation seiner Werke findet sich auch in Form von Musik und Text bei Steinbach auf der CD “Charles Bukowski. Ein Maulwurf im Karton. Songs und Gedichte” mit Gerd Wameling/Steffen Weßbecher-Newman (62 Min., Juli 2010, ISBN: 978-3-86974-055-3, 17,99 €)