Literatur-Skandal
Das Opus magnum «Effingers», der zweite Roman von Gabriele Tergit, wurde seit der Erstausgabe 1951 mehrfach neu aufgelegt, zuletzt 2019. Der Publikums-Erfolg jedoch blieb trotz euphorischer Besprechungen im Feuilleton weitgehend aus. Hatte Thea Dorn Recht, als sie erklärte: «Dass dieses Buch nicht längst fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal». 50 Jahre davor erschien mit «Die Buddenbrooks» der erste «Gesellschaftsroman in deutscher Sprache von Weltgeltung». Ohne Zweifel ist «Effingers» in diesem Genre inzwischen ebenfalls ein Klassiker, nach Heinz Schlaffers Definition also «gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig», diese Neuauflage beweist es!
Über vier Generationen hinweg, von 1878 bis 1948, wird in diesem opulenten Roman eine breit aufgefächerte Familien-Chronik aus der großbürgerlichen, jüdischen Berliner Gesellschaft erzählt. Als Klammer um das Geschehen dient anfangs und zum Schluss je ein Brief eines der markantesten Protagonisten, des Sohnes Paul aus der Uhrmacher-Familie Effinger im Städtchen Kragsheim. Anfangs ist er als 17Jähriger noch ein Lehrling voller Tatendrang, am Ende wartet er als 81jähriger, einst erfolgreicher Industrieller auf seine Deportation ins Vernichtungslager. Er habe «an das Gute im Menschen geglaubt», schreibt er resigniert, «Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens». Der im Buch abgedruckte Stammbaum führt als zweiten Zweig den Bankier Markus Goldschmidt aus Berlin als Stammvater der Familie auf. Anders als bei Thomas Mann geht hier aber eine ganze Welt unter als Folge des politischen Wahnsinns eines verbrecherischen Diktators, nicht nur eine zunehmend degenerierte Kaufmanns-Familie.
Über weite Strecken liest sich dieser Roman als detaillierte deutsche Gesellschafts-Studie über mehrere politische Epochen hinweg, deren markanteste die wilhelminische Ära mit Erstem Weltkrieg, Weimarer Republik und Inflationszeit, Machtübernahme der Nazis und Zweiter Weltkrieg sind. Diese politischen und gesellschaftlichen Umbrüche spiegeln sich im Leben der Effingers wieder, wobei die ökonomische Bandbreite vom einfachen Uhrmacher oder Krämerladenbesitzer bis zum Bankier und Großindustriellen reicht. Die Religion betreffend geht die Spanne vom strenggläubigen bis zum nicht praktizierenden Juden, wobei allerdings anzumerken ist, dass die Religion, ganz anders als vielfach behauptet, nur eine völlig nebensächliche Rolle spielt in dieser Familiensaga. Nur an wenigen Stellen, zunehmend natürlich gegen Ende, hat sie überhaupt mal Einfluss auf das Geschehen. Stattdessen sind es die üblichen Fährnisse des Lebens, die im Blickpunkt stehen, allem voran die Ehe als sinnstiftend für die Frauen früherer Zeiten. Überhaupt erstarkt die weibliche Emanzipation im chronologischen Ablauf von geradezu unglaublicher Spießigkeit, mit Anstandsdame beim Spaziergang des künftigen Paares, bis hin zur selbstbewussten Entscheidung, was den Ehepartner und vor allem Studium oder Berufswahl anbetrifft. Nicht verheiratet zu sein oder Liebhaber zu haben ist dann irgendwann kein Makel mehr für die selbstbewusst gewordene Frau.
Man merkt sprachlich den journalistischen Hintergrund der Autorin, der dialogreiche Roman wird präzise und ohne Ausschmückungen in kurzen Kapiteln, aber mit scharfem Blick für Details erzählt. Neben dem abgedruckten Stammbaum sei ergänzend das äußerst hilfreiche ‹Literaturlexikon› empfohlen, auf dessen diesem Werk gewidmeter Internet-Seite nicht weniger als 131 Roman-Figuren detailliert beschrieben werden. Als lebensnahe Informations-Quelle über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse ist «Effingers» durchaus mit entsprechenden Werken Fontanes vergleichbar, und erfreulicher Weise auch ähnlich genüsslich und den Horizont erweiternd zu lesen. Dazu tragen besonders die klugen philosophischen und kulturellen Erörterungen bei, die viele Lebensbereiche und Geisteshaltungen abdecken. Thea Dorn hat völlig Recht, ein Skandal!
Fazit: erstklassig
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