Der Sympathisant

Ironischer Spionageroman

Mit dem Debüt-Roman «Der Sympathisant» hat der vietnamesisch-amerikanische Schriftsteller Viet Thanh Nguyen 2016 den Pulitzer Prize gewonnen. Es geht thematisch dabei um nichts weniger als um das falsche amerikanische Narrativ zum verlorenen Vietnamkrieg. Ein Trauma für die Weltmacht, die Verlieren nicht gewohnt ist und diese Schmach bis heute nicht verarbeitet hat. Genüsslich widerlegt der als Professor an der Universität von Süd-Kalifornien lehrende, als Vierjähriger 1975 mit seinen Eltern in die USA emigrierte Schriftsteller diese verlogene Umdeutung der politischen Realitäten.

Der namenlos bleibende, in Saigon lebende Ich-Erzähler führt ein Doppelleben, er ist als Hauptmann Adjutant eines Generals der Armee Südvietnams, spioniert aber als Maulwurf für den Vietcong. Als Saigon 1975 von den Kommunisten erobert wird, flieht er auf Anordnung seiner Auftraggeber in letzter Stunde mit dem General, dessen Frau und zweihundert anderen Exilanten zunächst nach Guam und weiter in die USA. In Los Angeles angekommen, bleibt er weiter in Dienste des Generals, der davon träumt, den Vietcong mit einer patriotischen Befreiungs-Armee wieder aus Vietnam vertreiben zu können, und der dafür vorbereitende Aktivitäten einleitet. Der beste Freund und Kampfgefährte des Protagonisten erweist sich in dieser Exilanten-Gruppe als der Mann fürs Grobe. er ermordet im Auftrag des Generals kaltblütig einen mutmaßlichen kommunistischen Undercover-Agenten, der jedoch völlig schuldlos denunziert wurde. Wenig später bekommt der Protagonist den Auftrag, einen amerikanischen Journalisten zu liquidieren, der Details über die reaktionären vietnamesischen Aktivitäten in den USA veröffentlicht hat. Mit Bildern seiner Minox Spionage-Kamera und in Dossiers, die er mit unsichtbarer Tinte in Briefe an seine «Tante in Paris» einfügt, versorgt der Protagonist regelmäßig seine kommunistischen Führungskader in Vietnam. Bis er schließlich den Auftrag erhält, mit einem reaktionären Voraus-Kommando nach Vietnam zurückzukehren, um dort bei der Rekrutierung von Freiwilligen mitzuwirken.

Der titelgebende «Sympathisant» leidet als Ich-Erzähler zunehmend an seinem Doppelleben, fühlt sich hin und her gerissen, verzweifelt auch mehr und mehr an den Absurditäten, die sein Agentenleben mit sich bringt. Er empfindet seine Identität als Mann mit zwei Gesichtern als problematisch, es sei deshalb auch kein Wunder, «dass ich auch ein Mann mit zwei Seelen bin». Mit kräftigen Seitenhieben auf den American Way of Live beschreibt der Autor die Probleme des halb-vietnamesischen Protagonisten, der in den USA aufgewachsen ist, dort studiert hat, hochintelligent ist und akzentfrei amerikanisch spricht. Aufgrund seines asiatischen Aussehens bezüglich Augen, Hautfarbe und Körpergröße wird er aber manchmal sogar offen als «Bastard» bezeichnet, was ihn jedes Mal zutiefst verletzt.

In bester amerikanischer Erzähl-Tradition schildert Viet Thanh Nguyen locker, sprachlich virtuos und unverkennbar ironisch seine Story aus einer schon fast vergessenen Epoche kriegerischer Auseinandersetzungen in Vietnam. Ein Land, das zuerst von den Franzosen und anschließend von den Amerikanern in hegemonialer Überheblichkeit unterdrückt worden ist, dem es schließlich aber gelang, sich zu befreien. Der Roman wirft viele politische Fragen auf, die darin gipfeln, ob die mühsam errungene, politische Selbstbestimmung bei gleichzeitiger ökonomischer Misere durch die kommunistische Diktatur nicht zu teuer bezahlt worden ist vom vietnamesischen Volk. Der Roman ist als schriftliches Geständnis an einen Kommandanten des Vietcong angelegt, das der Protagonist in einem Umerziehungslager auf 417 Seiten handschriftlich niedergeschrieben hat. Flüssig lesbar, süffig wie der viele Alkohol, der in diesem Spionage-Roman getrunken wird, viele Denkanstöße gebend und immer wieder höchst amüsant, ist «Der Sympathisant» nicht nur eine erfreuliche, sondern auch eine bereichernde Lektüre.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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Klara und die Sonne

Künstliche Intelligenz

Immer mal wieder stellte ich mir die Frage, kann künstliche Intelligenz eigentlich wahnsinnig werden? Wahnsinn bis zur Selbstaufgabe? Bei der Lektüre von „Klara und die Sonne“ des japanischen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro  ist diese Fragestellung durchaus legitim.

Es scheint also ein Science-Fiction-Roman zu sein, wobei sich die wissenschaftliche Fiktion weniger auf die technischen als auf die menschlichen Aspekte beziehen. Worum geht es dabei? Die alleinerziehende Mutter schafft für ihre schwer kranke Tochter Josie die künstliche Freundin Klara an. Nicht ohne Hintergedanken. Was auch gleich die Frage aufwirft, wie weit darf die Anwendung von KI gehen?

Diese KFs sind vom Hersteller so konfiguriert, dass sie es als Aufgabe verstehen, das Leben ihrer menschlichen Freunde und Freundinnen so angenehm wie möglich zu gestalten. Gemeinhin würde man unterstellen, dass die KF Klara sicher nicht mit ausgeprägten Emotionen ausgestattet sein kann und ihr somit die Krankheit Josies keine Probleme bereiten sollte. Aber weit gefehlt. Unsere Klara menschelt, warum sollte sie nicht auch wahnsinnig werden können? Josies Freund Rick deutet das aber etwas anders: „Damals dachte ich, das ist alles – na ja – KF-Aberglaube halt“.

Viele interessante Aspekte der künstlichen Intelligenz werden beleuchtet und deshalb ist das Buch auch sehr lesenswert. Mir als Ingenieur  kam die Technik etwas zu kurz, wiewohl gerade der oben genannte „KF-Aberglaube“ durchaus damit zu begründen ist, wobei die Sonne, wie der Titel andeutet, die entscheidende Rolle spielt.


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Mao – das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes

Mao – der Trump der Kommunisten?

Neulich hat mich Mao angelächelt. Auf einem Buch, das an einen Zaun gelehnt zum Mitnehmen stand. Das passiert im Viertel hier häufig, dass Menschen die Bücher nicht wegwerfen, sondern zum Mitnehmen vors Haus stellen.
Ich habe Mao mitgenommen. Über Stalin wusste ich schon immer viel, die Begeisterung der Marxisten-Leninisten für ihn in den Siebzigern habe ich nie geteilt.
Aber Mao, der schien nicht so schlimm zu sein. Selbst viele Konservative fanden ihn toll.
Und für uns Jugendliche klang Kulturrevolution so verführerisch. Wir haben sie 1968 und später geliebt. Aufstehen gegen eingerostete Kultur, eingerostete Institutionen, Bürokraten. Nicht nur ich, auch viele andere junge Leute haben daran geglaubt.
Das Mao-Buch allerdings erzählt eine Geschichte darüber, die ich so nicht kannte.
Die Kulturrevolution war eine geschickte Intrige Maos. 1958-61 hatte er den großen Sprung nach vorne ausgerufen, überall brannten kleine Hochöfen und sämtliche nützlichen Dinge aus Eisen wanderten dort hinein. Den Bauern wurden die Lebensmittel abgepresst, die Mao ins Ausland verkaufte, um Geld für seinen Traum, die chinesischen Atombombe, zu bekommen. Er glaubte wirklich, dass China mit dem Eisen aus Mini-Hochöfen zur Großmacht werden würde.
1962 wagten dann doch einige Funktionäre den Aufstand. Erstmals kam zur Sprache, dass Millionen beim großen Sprung verhungert waren. Dass Maos Vorstellung, man müsse nur viel Stahl erzeugen, um zur Weltmacht zu werden und die USA zu überholen, ein gigantischer Schwindel war. Mao musste klein beigeben und den großen Sprung abblasen. Natürlich schob er anderen die Schuld in die Schuhe, den örtlichen Funktionären, der Sowjetunion und den Planungskommissionen. Nur einer war unschuldig; der Erfinder des großen Sprungs vorwärts, der Schrott produzierte und Millionen verhungern ließ:
Gott vergibt. Mao niemals. Liu chao Shi, der zweite Mann in der KP Chinas, hatte ihm widersprochen. Und mit ihm viele andere Funktionäre. Widerspruch vertrug Mao nicht und vergaß ihn nie.
So rief er die Kulturrevolution aus. Die Jugend sollte gegen die Bürokraten und die alte Kultur aufstehen. Sie tat es gerne, die Bürokratie war verhasst. Wie immer delegierte Mao die Aufgabe, diesmal an seine Frau Jiang Qin und an seinen Verteidigungsminister Lin Biao. Liu chao Shi wurde gedemütigt und in Isolationshaft genommen. Zahlreiche Funktionäre wurden durch die roten Garden gefoltert, getötet oder, wenn sie Glück hatten, nur öffentlich gedemütigt und zu »Selbstkritik« gezwungen.
Mao legte Quoten fest, die vorgaben, wie viele in jedem Bezirk verhaftet, wie viele ermordet werden mussten. Wer zu wenige erschoss, war ganz sicher ein Rechtsabweichler und musste ebenfalls verfolgt werden.
Das Ganze war nicht neu. Wie Stalin benutzte Mao andere Menschen und ließ sie beseitigen oder ins Arbeitslager schaffen. Die Taktik hatte er bereits seit der Gründung des ersten kommunistischen Staats 1931 in einer chinesischen Provinz angewandt. Um seinen Traum vom »neuen Menschen« zu verwirklichen, der allen Egoismus fahren ließ, nur für das Kollektiv lebte, immer die gleiche Meinung wie alle vertrat und sich auch gleich wie alle anderen kleidete. Wie Ché Guevara hasste Mao Individualismus.
Und wie viele Puritaner predigte er Wasser und trank Wein. Er selbst hungerte nie. Den Chinesen waren Bücher verboten, außer der roten Mao-Bibel. Mao wollte die Kultur nicht revolutionieren, er wollte sie »ermorden«. Unnützes Zeug, das die Menschen von der gesellschaftlich nützlichen Arbeit abhielt.
Er selbst besaß ein eigens konstruiertes Bett, damit die vielen Bücher, die er dort stapelte, nicht in der Nacht auf ihn fielen.
Jung Chang und Jon Halliday schildern Mao ausführlich mit zahlreichen Quellenangaben in »Mao – das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes«. Ein trauriges, aber notwendiges Buch, das den Aufstieg eines Intriganten schildert, der die Welt beherrschen wollte, jeden Widerspruch brutal unterdrückte und die Chinesen hungern ließ.
Das Buch zeichnet Maos Weg gut nach, leider verliert es einiges dabei aus den Augen. Anfang der Zwanziger hatte die KP Chinas knapp über vierzig Mitglieder, Anfang der Dreißiger konnte sie ihren ersten kommunistischen Staat in China gründen, Ende der Vierziger beherrschte sie das chinesische Festland.
Mao beherrschte die KP. Der Frage, warum so viele ihm nachgelaufen sind, geht das Buch leider nicht nach. Und auch nicht der Frage, warum das Konzept der leninistischen Partei, der »Führung der Arbeiterklasse«, nicht nur Mao und Stalin, sondern auch massenhaft weitere Bürokraten, Intriganten und Opportunisten hervorbrachte.
Auch in anderen Gesellschaften wimmelt es von Opportunisten und Intriganten in der Politik. Mit Trump haben wir gerade ein eindrückliches Beispiel erlebt. Genau wie Mao vertrug er keinerlei Widerspruch, glaubte, alles besser zu wissen als die Fachleute, schlug jeden Ratschlag in den Wind und entließ jeden, der ihm auch nur ein bisschen widersprach.
Aber die USA hatten seit langem Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit, die selbst ein Trump nicht abschaffen konnte, obwohl er es immer wieder versucht hat. Lenin hat beides bei seinem Revolutionskonzept völlig außer Acht gelassen. Die Rechnung wurde bald präsentiert, als Stalin an die Macht kam. Und später bei Mao wiederholte es sich. Kein unabhängiges Gericht konnte ihnen auf die Finger klopfen, keine freie Presse die gefälschten Erfolgszahlen anprangern, die Hungersnot und die Morde der Geheimpolizei aufdecken.
Das Buch hat mich traurig gestimmt, ich konnte es nur nach und nach lesen, weil es mich an meinen Idealismus und den zahlreicher Anderer erinnert hat. Und die Frage aufwirft, warum so viele Intellektuelle diesem Kriminellen nachgelaufen sind, überall sein Loblied sangen und jeden verteufelten, der ihnen widersprach. Schon damals gab es eine Cancel-Culture, die unbequeme Wahrheiten lieber unter der Decke halten wollte.


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Weine nicht

Holzschnittartige Erzählweise

Der Roman «Weine nicht» der französischen Schriftstellerin Lydie Salvayre hat den Spanischen Bürgerkrieg zum Thema. Als Tochter nach Frankreich geflüchteter Spanier erzählt sie in diesem 2014 mit dem Prix Goncourt prämierten Roman aus der anarchistischen Anfangsphase dieser brutalen Kämpfe im Sommer 1936, basierend auf den mündlichen Überlieferungen ihrer katalanischen Mutter. Eng verflochten in ihre Geschichte und häufig zitiert ist außerdem die von Georges Bernanos in seinem Buch «Die großen Friedhöfe unter dem Mond» sehr eindringlich geschilderte Verfolgung der Kommunisten auf Mallorca.

Die hochbetagte Mutter der Ich-Erzählerin berichtet im Jahre 2011 aus der einzigen Phase ihres langen Lebens, an die sie sich noch lebhaft erinnern kann. Als 15jähriges Mädchen hat Montserrat, genannt Montse, in einem hinterwäldlerischen katalanischen Dorf erlebt, wie plötzlich die Unruhen des beginnenden Bürgerkriegs auch dessen Bewohner erfasst haben. Ihr älterer Bruder José, der sich begeistert den Anarchisten anschließt, nimmt sie mit nach Barcelona, wo sich die verschiedensten politischen Kräfte versammeln und erste Milizen gebildet werden, um in den Krieg zu ziehen. Das einfältige Bauernmädchen ist überwältigt von der freiheitlichen, mondänen Welt, die sie in der großen Stadt wie ein Wunder ungläubig bestaunt, sie erlebt die intensivste Zeit ihres ganzen Lebens. Und sie lernt einen jungen Mann kennen, mit dem sie wie im Rausch die Nacht verbringt, bevor er am nächsten Morgen als Kriegsfreiwilliger zur Front abrückt, sie weiß nicht mal seinen Namen. José aber erkennt schon bald ernüchtert die Widersprüche und Unwahrheiten seiner Kampfgefährten und beschließt, nicht in den Krieg zu ziehen, sondern mit seiner Schwester in sein Dorf zurückzukehren. Montse jedoch ist schwanger, aber die Mutter verkuppelt sie flugs ausgerechnet mit Diego, der als Stalinist schärfster politischer Widersacher von José ist.

Durch die intensive Einbeziehung der Berichte von George Bernanos enthält dieser Roman eine scharfe antiklerikale Kritik, die unheilvolle Allianz der Franco-Anhänger mit dem Klerus verschlägt einem noch heute die Sprache. Man will es einfach nicht glauben, dass damals Kirchen-Vertreter die Opfer von Lynch-Aktionen der Falangisten vor dem Mord noch mit den Sterbe-Sakramenten versehen haben, um dann den in ihren Augen völlig gerechtfertigten Massakern im Namen Christi ungerührt beizuwohnen. Die Inquisition konnte kaum schlimmer gewesen sein. Erstaunlich ist, wie schnell das Aufbegehren der Kleinbauern gegen die scheinbar unverrückbaren Privilegien der Großgrund-Besitzer wieder abbricht. Man ist konservativ bis in die Knochen, auch was die prekäre eigene Rolle im sozialen Gefüge anbelangt. Eigentlich mag man ja gar keine Veränderungen, schon gar keine Revolution.

Dieser Roman wirkt formal ziemlich holzschnittartig mit seinen stark überzeichneten Figuren, derer bäuerlich einfältige Prägungen mit ihrer derben Ausdrucksweise zusammenpasst. Die wird dann immer wieder von den theologisch durchdrungenen Schriften eines Intellektuellen wie Georges Bernanos konterkariert. Die mündliche Rede schwankt permanent zwischen primitiver Grobheit und intellektuellem Feingefühl. Zusätzlich wechseln auch noch ständig die Erzähl-Perspektiven, was dann, nicht nur wegen der fehlenden Zeichensetzung, oft schwer durchschaubar wird. Da spricht einerseits ja die senile Mutter, also die mehr als neunzigjährige Montse, dann die ihr zuhörende und sie (in Klammern eingefügt) zuweilen korrigierende Tochter als Bericht-Erstatterin, und ferner auch noch der in langen, grafisch abgesetzten Zitaten ebenfalls mit einbezogene, katholizismus-kritische Schriftsteller mit seiner unverhohlenen Wut auf die bigotte Amtskirche. Störend sind zudem die vielen Einsprengsel in spanischer Sprache, die zwar im Glossar übersetzt werden, die aber den Lesefluss erheblich stören. Bleibt also als Benefit eine Geschichts-Stunde über den Spanischen Bürgerkrieg.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Der Befehl

Wer schlägt mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende noch einen dickleibigen Roman auf, der haarklein und bis in blutige Details das Grauen entbehrungsreicher amerikanischer Entscheidungsschlachten gegen Hitlers Armeen schildert? Scott Turow schafft es, mit einem literarischen Kunstgriff sowie einer packenden Story den Leser in das verheerende Kriegsgeschehen längst vergangener Zeiten hinein zu ziehen: Ein Journalist findet ein autobiographisches Manuskript, das sein verstorbener Vater aus den letzten Kriegsjahren hinterlassen hat. Anhand dieser Unterlagen folgt der Sohn der Spur des Vaters bei dessen Heereseinsätzen. Sein Auftrag als Militäranwalt in den Ardennen lautet, einen im Auftrag westlicher Geheimdienste in vorderster Front tätigen Major festzunehmen, der sich der Befehlsverweigerung schuldig gemacht haben soll und von einem mit ihm im Clinch liegenden General sogar als Gegenspion betrachtet wird.

Anhand des nachgelassenen Manuskriptes sowie einiger Feldpostbriefe wird die Entwicklung des jungen Anwaltes vom Sesselpupser zum Frontschwein deutlich. Träumte er anfangs schwärmerisch davon, für sein Land zu kämpfen, wird er nun durch seinen Auftrag Schritt für Schritt in die allererste Frontlinie gezwungen. Dort lernt er die ungeschminkte Seite des Krieges kennen. Er muss mit dem Fallschirm über einer belagerten Stadt abspringen und sieht, wie nahe Tod und Leben beieinander liegen. Er führt in Ermangelung erfahrener Frontoffiziere eine verzweifelt ums Überleben kämpfende US-Kompanie, die unter deutschen Beschuss gerät und nahezu vollständig zerrieben wird. Er erfährt den Wert des menschlichen Lebens sowie den Widersinn des Völkermordens, vor dem die Soldaten im Angesicht des Todes zittern. Er lernt aber auch abzuwägen zwischen hölzernen Kommissköpfen und menschlich empfindenden und mitdenkenden Vorgesetzten und macht dadurch einen inneren Reifungsprozess durch.

Der Militäranwalt findet den Geheimdienstoffizier und lernt ihn genauer kennen. Er unterstützt ihn sogar bei einem Sabotageakt auf deutscher Seite und erlebt dessen Mut und Opferbereitschaft. Zu allem Überfluss verliebt er sich auch noch in eine polnische Partisanin, die an der Seite des Angeklagten kämpft. Bald zweifelt der Jurist am Sinn des ihm übermittelten Befehls, den bei den kämpfenden Truppen hoch angesehenen und beliebten Offizier zu inhaftieren und vor ein Kriegsgericht zu bringen, doch er befolgt den Auftrag. Allerdings lässt er seinen Gefangenen letztlich entkommen und bekennt sich schuldig, um dafür selbst eine langjährige Haftstrafe verbüßen zu müssen.

Wer sich nicht scheut, durch Schlammpfützen zu robben und zerfetzte Körperteile im Kugelhagel regnen zu sehen, der findet in Turows fesselnd geschriebenem Kriegsroman die differenzierte und nachvollziehbare Zeichnung eines Helden, der zu selbständigem Denken und Handeln gelangt, sich als Rädchen in der Maschine verweigert und dem Herzen folgt.


Genre: Romane
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Minimum

»Deutschland stirbt aus!« warnt Frank Schirrmacher und dramatisiert in »Minimum« das drohende Sterben einer Nation durch fehlende Brut. Wir leben immer länger, wir zeugen kaum noch Nachwuchs; und vor allem gebärfreudige Frauen, die Träger der Familien als Urzellen der Nation, fehlen auf allen Betten und Matratzen. Uralte Kinder erleben ihre bald hundertjährigen Eltern, doch jeder dritte Verbund bleibt ohne Nachwuchs. Die Brutöfen sind kalt. Siegfrieds einstmals kriegerische Erben sind müde geworden. — Armes Deutschland! —

»Na und?« mag man ungerührt fragen. Ganze Kontinente kämpfen mit der explodierenden Bevölkerung, und wir beklagen mangelnde Fruchtbarkeit! — Fakt ist: aus dem einstigen »Volk ohne Raum« wird schleichend aber unaufhaltsam ein Raum ohne Volk. Deutschland hat mittelfristig nur eine Überlebenschance: als multinationaler Mischmasch. — Ist das wirklich ein derartig schmerzliches Szenario, dass wir zur Abwehr wieder Mutterkreuze und Abschussprämien stiften sollten? —

Vielleicht siedeln in Zukunft kinderreiche Mongolenstämme zwischen Rhein und Weser! Vielleicht treiben anno 2112 tibetische Hirten zottelige Yaks über die Schwäbische Alb! Vielleicht leiten schwarzafrikanische Voodoo-Priesterinnen dann in Berlin das Fruchtbarkeitsministerium und konservieren germanisches Sperma zur völkerkundlichen Dokumentation in Kryobanken!

Solange in allen Bereichen deutlich wird, dass Kinder eine kaum zu tragende wirtschaftliche Last mit ungewissen Zukunftschancen sind und es an attraktiven Hortplätzen und Schulen mangelt, wird kaum einer aus selbstloser Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen bereit sein, zusätzlich ein Dutzend Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Bevölkerung entwickelt sich natürlich, Appelle halten ebenso wie Anreize keinen Untergang auf. Wie eines schönen Tages keine Saurier mehr auf dieser Erde grasten, und die Hochkultur der Maya im Orkus verschwand, so geht auch das Volk der Dichter und Denker früher oder später den Bach hinunter und wandert ins Geschichtsbuch.

Es sei denn, es sei denn, es sei denn … Frank Schirrmacher weist in seinem nächsten Buch den Weg aus der Misere und rettet good old germany.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Blessing München

Minimum

Mit seinem Bestseller »Das Methusalem-Komplott« thematisierte Frank Schirrmacher das Phänomen einer rapide alternden Gesellschaft. Mit »Minimum« legt er den Finger auf die wunde Familie und das drohende Sterben einer Nation durch fehlenden Nachwuchs. Auch mit diesem Buch gelingt es ihm, demografische Entwicklungen populär zu veranschaulichen.

Der Autor sieht in der aktuellen gesellschaftlichen Situation Parallelen zum Jahre 1945: heute müsse sich Deutschland ebenso wie nach Kriegsende um einen Wiederaufbau bemühen; es gelte, die Familie als existentielle Kraft wieder zu beleben, um das Land neu zusammen zu setzen. — Warum? — In naher Zukunft seien fast siebzigjährige Kinder mit ihren noch lebenden Eltern unterwegs, von denen bereits ein Drittel gänzlich ohne Enkel bleibe. Eine Welt, in der wir aber aufgrund steigender Lebenserwartungen siebzig Jahre lang Kinder sein können und in der gleichzeitig Kinder als nachwachsende Ressource fehlen, sei so ungewöhnlich, dass uns dafür im Augenblick sogar noch die Begrifflichkeit fehle, schreibt Schirrmacher.

Eine Gesellschaft ohne Kinder ist eine sterbende Gesellschaft, das bedarf keiner Erläuterung. Dabei lässt sich nachweisen, dass nur durch den Kontakt mit Kindern das Bedürfnis, selbst Kinder haben zu wollen, geweckt wird. Abhängig ist dies bereits von den Familienverhältnissen der Elterngeneration: wachsen Kinder mit jüngeren Geschwistern auf, entsteht eine Fürsorgemotivation, die sich bei Erwachsenen in höherer Kinderliebe und stärkerem Kinderwunsch ausdrückt — und umgekehrt! Daraus folgt: immer weniger Kinder werden später immer weniger Nachwuchs produzieren wollen, Familienbande reißen, Sippen erlöschen, der Staat zerfällt.

Die heutige von Telenovelas erzogene Elterngeneration hat vor dem Hintergrund sozialer Krisen und kultureller Konflikte andere Interessen, als ausgerechnet Kinder in die Welt zu setzen. So schließt sich der Kreis, den Schirrmacher schlägt. Dabei weist er leider keine Wege, wie sich die Erkenntnis, wonach Blut dicker ist als Wasser, in konkretem Kindersegen niederschlagen könnte. Aber vielleicht erklärt er in seinem nächsten Buch, wie Deutschland vor titanischem Untergang und sozialem Bankrott bewahrt werden kann?


Genre: Politik und Gesellschaft
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Die Mondgöttin

Der Roman des in Nanking lebenden Autors spielt im farbenprächtigen Milieu der chinesischen Oper. Die Diva Xiao Yanqui, eine lebende Verkörperung der Protagonistin der Peking-Oper »Chang´es Flug zum Mond«, verhilft der Inszenierung durch ihre Kunst zum Erfolg, während umgekehrt die Oper ihr den Durchbruch bringt. Doch die ruhmsüchtige Sängerin muss bald ihre verheißungsvolle Karriere abbrechen, weil sie in einem unbeherrschten Moment ihrer älteren und erfahrenen Zweitbesetzung, die für sie zurücktrat und sie sogar anleitete, kochendes Wasser ins Gesicht schüttet.

Zwanzig Jahre später finanziert ein zu Geld gekommener Fan der Sängerin die Wiederaufnahme des Stückes. Xiao Yanqui sieht die Erfüllung all ihrer Träume gekommen und stürzt sich mit Hingabe in die Proben. Wieder erwächst ihr eine Rivalin, diesmal jedoch befindet sie sich in der Rolle der Älteren, die jüngere ist ihre Schülerin, die für sie wie eine Tochter war. Hat Yanqui aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, und kann sie diesmal ihr Temperament zügeln?

Bald verschwimmen die Grenzen zwischen der Person der Sängerin und der von ihr interpretierten Figur. Immer stärker verpuppt sich der Altstar in die Rolle und lebt nur für diese, während das Privatleben als Ballast empfunden wird. »Die Winterblume, kaum erblüht, wird schon von Reif und Schnee zerpflückt. Noch einmal blüht sie auf und wird von Hagelschlag und Eis zerstückt«, heißt es im Text der Oper, der damit das innere Thema des Buches abbildet.

Im Stück stiehlt Chang´e dem Helden Huoyi eine Pille der Unsterblichkeit, die er als Lohn für die Rettung der Erde erhalten hat, und schluckt sie selbst. Aus Furcht vor Houyis Zorn steigt sie in die Lüfte auf und versteckt sich auf dem Mond. Dort führt sie als Mondgöttin ein einsames Leben und schaut voll Gram und Reue auf die Erde. Der Mensch ist sich selbst Feind, er sehnt sich danach, sein Menschsein abzustreifen und ein göttliches Wesen zu werden. Die falsche Pille zu schlucken ist Chang´es Los, das Los der Frauen und des mit seiner Bestimmung unzufriedenen Menschen überhaupt.

Bi Feiyu schuf mit seinem kunstvoll gebauten Kurzroman um das Schicksal einer chinesischen Diva eine Oper in der Oper. Der Text ist intensiv, er ist intim, er berührt Fragen der Identifikation mit einer Rolle und des Loslassenkönnens ebenso wie solche des künstlerischen Selbstverständnisses. Ein ungewöhnlich vielschichtiges Buch!


Genre: Romane
Illustrated by Blessing München

Jugendwahn und Altersstarrsinn

Ausgewählte Texte aus dem letzten Lebensjahr des 2003 verstorbenen Redakteurs der »Süddeutschen Zeitung« bilden gemeinsam mit einem Fragment über seine Sicht des Generationenkonflikts den Inhalt dieses Erinnerungsbuches. Der Verlag möchte damit die Brillanz der Schreibe dieses bedeutenden Publizisten noch einmal zum Leuchten bringen. Deutlich wird darin, wie schnell der Mensch altert und eines schönen Tages, ob er will oder nicht, auf der anderen Seite der Barrikade steht und sich von einer nachrückenden Jugend verfolgt fühlt, der er im Wege zu sein scheint.

Im Zuge der Bücherwelle über die überalterte Gesellschaft (Schirrmacher: »Der Methusalem-Komplex«) eine lesenswerte, ironisch distanzierte Sammlung journalistischer Texte.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Blessing München