Ich kann auch schlank: Mein Dukan-Diät-Tagebuch

51gjNYoK-XL._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-v3-big,TopRight,0,-55_SX324_SY324_PIkin4,BottomRight,1,22_AA346_SH20_OU03_Dieses Buch einen Ratgeber zu nennen, würde es nicht richtig beschreiben. Kirsten Wendt, übergewichtig, trotzdem gut aussehend, fühlt sich schon lange nicht mehr wohl in ihrer Haut. Sie hat, wie so viele in ihrer Situation, fast alle Diäten ausprobiert, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Über eine Bekannte erhält sie Informationen über die “Dukan-Diät”. Sie beschließt, dass dies ihre letzte Diät sein soll, egal wie sie endet. Um nicht den Überblick zu verlieren und ihre Ernährungsumstellung zu dokumentieren, verfasst sie ein Tagebuch, das sich verselbständigt und zu einem “Ratgeber” mutiert.

Offen und kein bisschen selbstherrlich schildert Kirsten Wendt ihren schweren Weg vom Übergewicht zur Normalfigur. Und genau das macht dieses Buch so besonders. Es ist kein Bericht, wie sie zu Hunderten geschrieben werden, getreu dem Motto: alles war ganz einfach und ich habe nicht gehungert, es hat Spaß gemacht, ich war die ganze Zeit glücklich. Und jetzt habe ich endlich Untergewicht. Juhu.


Mitnichten. Die Autorin schildert einen steinigen, mit Entbehrungen, psychischen und physischen Belastungen einhergehenden und manchmal fast nicht aushaltbaren Weg. Wenn sie anklagt, jammert, euphorisch jubelt, strahlt und wieder am Boden zerstört ist, fühlt man jede Minute mit ihr. Die zum Kaffee bereitgestellten und zum gemütlichen Verzehr bei der Lektüre dieses Buches gedachten Kekse bleiben wortwörtlich im Halse stecken. Danke dafür, Kirsten Wendt.  😉 Trotz Leid, Qual und Hungerperioden behält die Autorin ihren Humor. Immer wieder blitzen witzige Einlagen auf, die den Leser daran erinnern, dass eine gewaltige Herausforderung nicht die lustige Seite in einem Menschen vergraben muss. Ganz nebenbei entdeckt Kirsten Wendt einen weiteren Vorzug dieser Ernährungsweise: Ihre Migräne, unter der sie seit Jahren leidet, verflüchtigt sich Stück für Stück und wird so deutlich erträglicher.


Dieses Diät-Tagebuch ist uneingeschränkt lesenswert, auch für die Menschen, die glauben, dass eine so gewaltige Abnahme ein Kinderspiel sei.

Phänomenal.

 


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Kindle Edition

Buddhas Kinder

Olvedi eröffnet mit diesem Buch interessante Einblicke ins monastische Leben exiltibetischer Klöster. Speziell der Alltag der Novizen wird beleuchtet, dabei stets auch kritisch hinterfragt.

Ungemein spannend ist des Weiteren Olvedis Charakteristik der tibetischen Medizin. Und gänzlich unglaublich liest sich die Begegnung mit einem Schamanen, den sie bei einer Heilungszeremonie beobachtet, wobei das Ergebnis der gelungenen Behandlung medizinisch überprüft wurde. Selbst Einblicke ins tibetische Totenbuch (und in eine berührende, auf die Wiedergeburt hingewendete Begräbniszeremonie) werden uns gewährt.

Erfreut erkennt der Leser Begebenheiten wieder, die Olvedi in ihren Büchern einarbeitete. Klar und schön spiegeln sich in „Buddhas Kinder“ die Quellen, aus denen die Romane der Meister-Autorin fließen. Auch die Herkunft des fundierten spirituellen Wissens wird fassbar, wenn sie von den großen buddhistischen Lamas unserer Zeit erzählt, bei denen sie studierte. Reich und prächtig bebildert ist dieses Buch ein Muss für jeden, den die mystischen Welten aus Olvedis belletristischem Werk faszinieren.

Naturgemäß nicht unproblematisch stellt sich die Schilderung des Klosterlebens der Kinder dar. Viele werden aus purer Armut von den Eltern „abgegeben“, anderen soll die umfassende Ausbildung im Kloster eine bessere Zukunft sichern. Nun scheint das Leben im exiltibetischen Kloster nicht vergleichbar mit den oft bösen Erfahrungen in katholischen Internaten. Disziplinär nötige Strenge wird durch die Weisheit der buddhistischen Lehrer abgemildert. Und Selbst-Disziplin stellt eine Tugend auf dem buddhistischen Pfad zur Erleuchtung dar. Klosterkinder spielen gern Fußball – vieles ist nicht ausdrücklich erlaubt, aber genauso wenig speziell verboten. Musik und Tanz zählen zu den Lehrinhalten der umfassenden spirituellen Tradition. Es scheint, als verstünden die erziehenden Mönche stets aufs Neue, die Balance zwischen nötiger Anleitung und dem Zulassen kindlicher Lebensenergie zu finden.

Ein Novize – Patenkind Olvedis – wendet sich an westliche Jugendliche. Er wirbt fürs Klosterleben, das ihm Halt, Sicherheit, Ausbildung und eine würdige Zukunft schenkt. Mönchen wird in buddhistischen Ländern hoher Respekt gezollt, und sie sind bei allerhand Zeremonien unerlässlich. Doch keines der Kinder ist gezwungen, nach seiner Zeit im Kloster, lebenslang Mönch zu bleiben.

Olvedi stellt den Buddhismus als philosophisch-psychologisches System dar, an das man nicht glauben muss bzw. soll, sondern das man nur mittels (Meditations-)Praxis sich erschließen kann. Den Unterschied zwischen Wiedergeburts-Überzeugung und Auferstehungsreligion erläutert sie präzise. Karma hat nichts mit Strafe zu tun, sondern mit den Chancen, aus den Fehlern voriger Leben zu lernen.

Dem Leben der Nonnen wird Olvedis besondere Aufmerksamkeit zuteil, (wie auch in ihren Romanen). Im Exil in Nepal und Indien zeigt der tibetische Buddhismus (der Vajrayana), weniger patriarchale Züge. Olvedi unterstützt die Entwicklung der Nonnen, wo sie nur kann, gerade natürlich im eigenen Verein, der sich zur Aufgabe machte, Klöster im Exil zu fördern.


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Nymphenburger

Warum fragt uns denn keiner

Melda Akbas, Warum fragt uns denn keinerIn fast allen Bundesländern sind die Sommerferien zu Ende und das neue Schuljahr hat begonnen. Neues Spiel – neues Glück? Manchmal scheint es so, als wäre Bildung Glückssache und als würde viel zu oft mit den Bildungswegen unserer Kinder gespielt. Deshalb gibt es passend zum Thema Schule eine der in diesem Blog seltenen Sachbuchvorstellungen: Warum fragt uns denn keiner? – Ein Buch von Melda Akbas, Untertitel: Was in der Schule falsch läuft.

Die Autorin ist von Haus aus Berlinerin, dort als Tochter türkischer Eltern geboren und zur Schule gegangen. Mit ihrem noch als Schülerin veröffentlichten Erstling So wie ich will – Mein Leben zwischen Moschee und Minirock war sie 2010 eine der jüngsten Bestseller-Autorinnen überhaupt. In ihrem neuen Buch nun also die umfassende Thematik Bildung. Eine Thematik, die zwar viele in dieser Republik bewegt, die aber allzu oft zum Gegenstand diverser Sonntagsreden verkümmert.

Die heutige Jurastudentin Melda Akbas weiß, wovon sie redet. Bis zum Abitur erlebte sie Unterricht bei insgesamt 51 Lehrern in 15.522 Unterrichtsstunden. Sie war stellvertetende Schulsprecherin und engagierte sich im Landesschülerausschuss. Es sind ihre Erfahrungen und die von vielen anderen Schülern, die sie in ihrem Buch zusammengetragen hat und die sie immer wieder auf eine Kernfrage zurückkommen lassen: Warum fragt denn keiner mal die Schüler? Schließlich sind sie es, für deren Zukunft in der Schule die Weichen gestellt werden. Die Schülersicht auf Unterrichtsgestaltung, Zensuren, Unterrichtsausfälle und den Umgang der Pädagogen mit ihren Schutzbefohlenen ist schon eine ganz andere als die in Sonntagsreden der Politik verkündete, als die Sicht der Schulbehörden und auch der Lehrer. Aber es fragt sie keiner, die Meinung derer, die betroffen sind, wird zu selten noch wahrgenommen, ernst genommen oft erst recht nicht.

Schulpolitik wird in Deutschland traditionell von Behörden, sogenannten Experten und Politikern gemacht. Selbst wenn man ihnen nicht unterstellt, die Interessen der Schüler und der Lehrer zu ignorieren, sie haben auch andere Dinge im Auge zu behalten, die mit Bildung an sich nichts zu tun haben. Entsprechend weit sind die Vorschläge, Maßnahmen und die immer wieder mit heißer Nadel gestrickte Reformen vom Alltagsleben der Schüler entfernt. So nimmt es nicht wunder, dass viele Schüler und Lehrer demotiviert und frustriert sind. Melda Akbas betreibt mit den in ihrem Buch dokumentierten Gesprächen und Berichten Ursachenforschung, die sie in ihrem Hauptkritikpunkt, der mangelnden Schüler-Mitbestimmung bestärkt.

Bei ihren Befragungen kommen Schüler/innen, Lehrer und Bildungsbeauftragte aus verschiedenen Bundesländern und Schulformen zu Wort. Dabei kommt auch dem Thema Integration immer wieder eine große Bedeutung zu. Es ist in Deutschland leider immer noch zu oft ein Tabu, dieses Thema im Klartext anzugehen. Melda Akbas scheut sich da weniger. Sicher gut, dass da mal von einer Autorin klare Worte kommen, die sich auch in der türkischen Gemeinde engagiert. Generell malen die im Buch dokumentierten “Zeugnisse” ein sehr viel klareres Bild vom Zustand der schulischen Bildung in unserem Land, als es sämtliche trockenen und rein theoretischen Berichte je könnten.

Melda Akbas ist dabei sehr bemüht, keine Einseitigkeit aufkommen zu lassen und den verschiedensten Blickwinkeln gerecht zu werden. Diese Vorgehensweise birgt naturgemäß die Gefahr der Schwammigkeit und dieser Gefahr erliegt die Autorin durchaus an manchen Stellen. Vor allem, wenn klar wird, dass es den alleinig selig machenden goldenen Weg wohl nie geben wird und dass einfach nicht alle Vorstellungen unter einen Hut zu bringen sind. Darüberhinaus ist ihre Herangehensweise sehr speziell, sie springt gerne zwischen Thesen und Erlebten hin und her, was dem Buch eine gewisse Unruhe und Unübersichtlichkeit gibt. So manche Lösungsansätze gehen schier unter in der Masse der Informationen. Da ist es gut, dass die Autorin zum Abschluß des Buches noch eine Sammlung ihrer Änderungsvorschläge dem Buch hintenanstellt.

Natürlich muss man auch sagen: Vieles von dem, was Melda Akbas fordert, gibt es schon. Viele Schulen bemühen sich sehr, Schüler mit einzubeziehen und die Schülervertretungen in ihrer Arbeit zu unterstützen, zu bilden und zu stärken. Doch bei allen Bemühungen bleibt dafür einfach nicht genug Zeit, da immer neue unausgegorene Reformen den Schulalltag erheblich erschweren. Man hat in der Tat den Eindruck, dass Schülerbeteiligung von “oben” zu oft belächelt und als unwichtig abgetan wird. Unterstützung erfahren die in dieser Sache Engagierten definitiv nicht.

Warum fragt uns denn keiner ist mit viel Herzblut, viel Engagement und persönlicher Betroffenheit geschrieben, das macht es glaubwürdig. Es bleibt das ungute Gefühl, welches beim Thema Bildung immer mitschwingt. Denjenigen, die dazu wirklich etwas zu sagen haben, wird nicht zugehört. Könnte ja ein Ende der ach so bequemen Flickschustereien bedeuten. Das Buch bietet gute Einblicke, die viele Beteiligte sicher bestätigen können. Es wäre wünschenswert, dass diesem Buch Aufmerksamkeit von richtiger Stelle geschenkt wird. Auch wenn man sich manche Lösungsvorschläge konkreter erhofft hätte: Warum fragt uns denn keiner ist eine wirklich gute Diskussionsgrundlage

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Bertelsmann München

Der alte König in seinem Exil

51rWF+gDfLLDie ersten Alzheimer-Symptome können durchaus noch alltäglich sein, vorübergehender Verlust von Gedächtnis und Orientierung, aufkeimende Schrulligkeiten. Es dauert seine Zeit, bis die sichere Diagnose vorliegt und man endlich aufhört, mit der Person zu schimpfen und eigentlich die Krankheit zu meinen. Über das was dann kommt hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ein sehr persönliches Buch geschrieben. Es erzählt über die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters, darüber, wie einem geliebten Menschen, für den er immer noch viel an kindlichem Aufblick übrig hat, das geistige Navigationssystem abhanden kommt. Das Buch beginnt mit Szenen aus dem ganz alltäglichen und doch nie wieder alltäglich werdenden Umgang der beiden miteinander. Es sind Momentaufnahmen einer wegziehenden Vernunft. „Früher hatte ich auch Katzen“ entfährt es dem Vater beim Anblick einer Katze „nicht gerade für mich alleine, aber als Teilhaber“. „ Es geschehen keine Wunder aber Zeichen. Ohne Probleme ist das Leben auch nicht leichter“, lautet die Antwort auf die Frage seines Sohnes, wie es ihm geht. Solche und andere, immerhin im mittleren Stadium getane Äußerungen geraten zu Kartengrüßen aus einer ganz neuen Welt. Es ist eine Welt in der die Grundgesetze der Sachlichkeit und Zielstrebigkeit nicht mehr gelten, in der es dem Vater aber dennoch gelingt, sich über längere Zeit mit bewundernswerter Leichtigkeit zu behaupten.
Den Momentaufnahmen folgt die Chronologie. Es ist eine Abfolge von ersten, frühen Irritationen und Verstörtheiten, des Diagnoseschocks, des sich Arrangierens und schließlich des Annehmens einer Krankheit samt eines neuen Menschen. Man erfährt viel über den Vater, über das Trauma der Kriegsgefangenschaft. Er beschließt, sein ganzes restliches Leben in seinem Heimatort zu bleiben, nicht einmal Urlaubsreisen unternimmt er, um solch ein Heimweh nicht noch einmal erleben zu müssen. Tragikomischerweise kann ihn das nicht vor dem Heimweh bewahren, das ihn heimsucht, als er im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit schlicht und einfach nicht mehr versteht, dass er doch im von ihm selbst erbauten Haus zu Hause ist. Man erfährt viel über die Lust seines Sohnes auf Wiederannäherung. Dazu
trägt mitunter eben auch jener skurrile Charme einer ganz eigenen Privatlogik des Vaters bei, auf die sich der Autor mit einer gewissen Neugier auch einlässt. Es ist überhaupt das Verdienst Geigers, den Krankheitsverlauf nicht als ein stetig voranschreitendes geistiges Ausbluten, sondern als ein Wechsel von lichten und dunklen, von tragikomischen und tragischen Momenten darzustellen. So mutet der Vater nicht selten wie ein leckgeschlagenes U-Boot an, dem vor dem endgültigen Absacken immer wieder unerwartete Auftauchmanöver gelingen. „Was soll ich mit dem Brot auf dem Teller?“ „Das musst du nur abbeißen“. „Wenn ich nur wüsste, wie das geht. Ich bin doch ein armer Schlucker. Es ist bei mir nichts wichtiges mehr vorhanden. Ich kann es nicht beweisen, aber das Gefühl habe ich.“ Solche und viele andere Passagen schärfen den Blick dafür, dass die Würde eines Menschen auch aus scheinbar noch so vernunftsgetrübter Ferne immer noch ergreifend herüberwinken kann.
Man merkt dem Autor den Romancier an, das Buch ist sprachlich geformt. Es ist eine intime Gefühlswelt, voller Eigendramatik, sensibler Dialoge und anreichernder Bilder. Die Melancholie wird zunehmend persönlicher, rührt sie doch von der schmerzhaften Erkenntnis der Unumkehrbarkeit her. Man mag dem Buch vorwerfen, kein Ratgeber zu sein. Dennoch, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann Wahrheit und Korrektheit aufgegeben werden müssen, weil sie keine argumentative Schwerkraft mehr haben, wann man mit unklaren Fragen weiter als mit klaren Antworten kommt, hat durchaus was Alltagstaugliches. Zum Schluss erweist sich die Heftigkeit der Umnachtungen doch als stärker als die Kräfte der Angehörigen und der Betreuer. Der Vater kommt ins Heim.


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Hanser

In darkest Leipzig

Als der Autor anno 2004 für ein studienbegleitendes Praktikum nach Tansania aufbrach, vermutete der angehende Ethnologe noch, dass Fremdartigkeit und Exotik in anderen Kulturen beheimatet wären, und er mit jedem Flugkilometer diesem Phänomen näher kommen könnte. Doch nicht in der Weite des schwarzen Kontinents stieß er auf das Gesuchte. Die Fremde wartete vielmehr nach seiner Rückkehr direkt vor seiner Wohnungstür in Leipzig-Lindenau.

Lindenau ist ein Stadtteil im Westen der sächsischen Stadt Leipzig. Hervorgegangen aus einem vor rund 1000 Jahren von deutschen Bauern gegründeten Dorf entwickelte sich der Ort zu einer prosperierenden Industriegemeinde. Mit der Wende brach die Industrieproduktion zusammen, der Stadtteil zerfiel. Heute ist er von Industriebrachen und hoher Arbeitslosigkeit geprägt. In diesen Teil Leipzig verschlug es den jungen Ethnologen.

Während der Autor die Nächte dafür verwendete, die dunkle Romantik in den Ruinen von Lindenau aufzusuchen, war er tagsüber damit beschäftigt, die seltsamen Menschen zu beobachten, die den Gestalten mancher Albträume nicht unähnlich sahen. Es schien ihm, als trügen viele Bewohner eine dämonische Kraft in ihrem Innersten, etwas Böswilliges, Verbittertes. Etwas, das versuchte, die Träume derer, die noch an den Zauber der Welt glaubten, in der Bitternis der eigenen Unzufriedenheit zu ertränken. Horden von Säufern mit üblen Knasttattoos und fettigen Haaren lungerten auf den Straßen. Ihre aschbleichen Gesichtszüge mit den blutunterlaufenen Augen erschienen wie die Überreste einer fremdartigen Kriegbemalung für einen Feldzug, der schon lange verloren war.

Als Ergebnis seiner zwölfmonatigen Feldforschung liefert Schweßinger einen ethnografischen Bericht, der den Leser staunen macht. Denn die Lindenauer scheinen um ein Vielfaches exotischer als die Menschen im tiefsten Afrika. Er meint sogar, die Wilden, für die manche Afrikaner gern gehalten werden, seien eher in den Straßen Lindaus anzutreffen als in den Weiten des schwarzen Kontinents und schildert zum Beweis die Bewohner mit ihren bizarren Gesichtern und unbekannten Sitten.

Es sind Expeditionen in die Leipziger Finsternis, die den Leser des Buches erwarten. Nach der Lektüre der Schilderungen des begeisterten Ethnologen ist eines klar: Wanderer, kommst du nach Leipzig, meide Lindenau! Denn dieser Stadtteil ist keine Reise wert.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Edition PaperONE Leipzig

Die Allmacht des Geldes und die Zukunft der Phantasie

Der Autor, begeisterter Leser und Büchersammler, stand von 1975 bis 1992 an der Spitze großer ostdeutscher Verlagshäuser. Als Verleger des Berliner Aufbau-Verlags begleitete er den Umbruch von der sozialistischen Plan- zur freien Marktwirtschaft. 1990 gründete er zwei neue Unternehmen: den Aufbau-Taschenbuchverlag in Berlin und den Verlag Faber & Faber in Leipzig. Als Verleger, der Traditionen überblickt, als praktizierender Idealist und Akteur in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen liefert er uns in seinem neuen Essayband engagierte Betrachtungen zur Bücherwelt, die als fällige Einwürfe in die fatalen Bewegungsspiele einer weithin gestreßten Buchbranche angesehen werden dürfen. Er meditiert über Lieblingsautoren, Bestseller und Flops der Bücherwelt, das Taschenbuch von gestern, heute und morgen, über Büchersammeln und Buchgeschmack und über das Beziehungsge?echt zwischen Autoren und Verlegern, das wunderlichste Wechselverhältnis des literarischen Marktes von Luther bis Grass. In zwei umfangreichen Interviews »Was von den Träumen blieb – Als Verleger in der DDR« und »Die Allmacht des Geldes und die Zukunft der Phansasie – Als Verleger in der deutschen Bundesrepublik« zieht er Bilanz über ein bewegtes Verlegerleben. Leider merkt man dem alten Haudegen der DDR-Verlagsliteratur an, dass er doch dem DDR-Literaturgeschehen hinterhertrauert, aber es ist trotzdem interessant, wie er sich freut, dass er alte DDR-Titel z.B. Morgner, Amanda, wieder auflegen kann, um sie dem eiligen heutigen Literaturgeschehen wieder einzufügen, damit sie ihren literarischen Bestand behalten.


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Verlag Faber&Faber Leipzig