Apokalyptisches Klagelied
Der Hype um den in den USA wiederentdeckten farbigen Schriftsteller James Baldwin hat nun auch uns erreicht, die aktuelle Neuübersetzung seines autobiografischen Debütromans von 1953 «Go Tell It on the Mountain» wird vom Feuilleton allenthalben gefeiert. Wobei der Titel der neuen deutschen Ausgabe «Von dieser Welt» ein wenig ablenkt von dem, was den Leser wirklich erwartet, bezieht sich doch der Originaltitel auf ein allseits bekanntes, oft gehörtes Spiritual. Womit das beherrschende Thema des Romans weitaus treffender verdeutlicht wird, es geht nämlich um religiöse Inbrunst, ausgelöst hier durch das schreiende Unrecht der Rassendiskriminierung. Die aber ist auch heute noch weitgehend unveränderte Wirklichkeit im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», entsprechende Nachrichten von dort, untermauert durch die einschlägigen Polizeistatistiken, erinnern uns regelmäßig wieder daran. Und der offen rassistische Präsident ist als Nachfolger des ersten Farbigen in diesem Amt ein überdeutliches Indiz für diese reaktionäre Entwicklung, eine Rolle rückwärts also in der Rassenfrage. «Sein Werk altert nicht» heißt es über Baldwin im Vorwort, dabei wünscht man sich, dieser Roman wäre weniger aktuell.
Anders als die meisten seiner Zunft entwickelt Baldwin seine Thematik fast ausschließlich aus dem Innenleben seiner Figuren heraus, berichtet von den seelischen Verheerungen, die das schreiende Unrecht bei der unterdrückten farbigen Bevölkerung anrichtet. In der Rahmenhandlung der im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts angesiedelten Geschichte fungiert John als äußere Klammer, er droht auf der Suche nach sich selbst zu scheitern. «Alle hatten immer gesagt, John werde später mal Prediger» lautet der erste Satz. Als ihm 1935, am Morgen seines 14ten Geburtstages, seine nächtliche Masturbation bewusst wird, als in seiner Fantasie ein Fleck an der Zimmerdecke sich in eine nackte Frau verwandelt, ist sein Schrecken grenzenlos, er fühlt sich auf ewig verdammt. Der Tag endet in der Kirche, wo er in einer rauschhaften Erweckungsszene, im rasenden Kampf wütend mit sich selbst ringend, vor dem Altar liegt und endlich zu Gott findet.
In drei Teilen behandelt der Roman in Rückblicken die Biografie von Johns Stiefvater, unerbittlicher Laienprediger und böser Heuchler zugleich, von seiner Mutter und der Schwester des Vaters. Alle drei waren Kinder von Sklaven, die der Gewalt des Südens zu entkommen suchten, um dann in New York das Elend zu finden. Baldwin thematisiert den Hass der Farbigen, wobei der sich erstaunlicher Weise gegen sie selbst richtet, sie fühlen sich schuldig und sind Opfer ihrer Selbstverachtung. Ihr Leben wird bestimmt von Armut, Angst, Hass, Gewalt, – und von der Hölle, die ihnen ein rigider Pietismus unermüdlich einredet, indem er selbst alltägliche Ereignisse permanent als Menetekel an die Wand malt, immer nach dem Motto: Es gibt keine Unschuldigen! Als Sohn eines Baptistenpredigers ist dem Autor dieser religiöse Fanatismus quasi schon mit der Muttermilch eingegeben, die fatale Lebensfeindlichkeit seiner Geschichte ist also vorbestimmt, verschärft noch durch seine, auch im Roman anklingende, Homosexualität. Die naive Gläubigkeit seiner Figuren dient als Ausweg aus ihrem Dilemma, kompensiert den Unbill ihres prekären Lebens.
Streckenweise liest sich dieser Roman, seiner unverblümten Indoktrination wegen, wie naivste Erbauungsliteratur, deren Sprache in Diktion, Melodie und Rhythmus, in ihren häufigen Wiederholungen zudem, stark an das Alte Testament erinnert. Vergleicht man Baldwin mit Jerome David Salinger, Harper Lee, William Faulkner, E. L. Doctorow, so fällt die einseitige Perspektive von Baldwin auf, er stimmt ein apokalyptisches Klagelied an, das alle anderen Aspekte ausblendet und die Welt einseitig als Jammertal darstellt. Spätestens bei der Religion aber endet jede rationale Diskussion, über die Lesefrüchte, die dieser Roman uns beschert, hüllen wir also besser den Mantel des Schweigens.
Fazit: miserabel
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Nein, dieser Roman ist alles andere als miserabel. Die religiösen Passagen mögen uns heute etwas befremdlich erscheinen, doch ist der Gottesdienst ja nur die äußere Klammer, um uns Johns Familiengeschichte näher zu bringen. Die “Gebete” der Personen sind Lebensbeichten.
Als Leserin oder Leser weiß ich am Ende sehr viel mehr von dieser Familie als die handelnden Personen. Jede einzelne von ihnen hat ihr Päckchen zu tragen, sucht Wiedergutmachung für vermeintliches oder echtes Fehlverhalten in Lebensentscheidungen, ohne dies den betroffenen Mitmenschen zu artikulieren. Schlimm genug, dass der Rassismus immer noch nicht überwunden ist.
Alle Charaktere sind sehr zwiespältig, ihr Inneres steht im Widerspruch zum Äußeren, besonders bei Gabriel, dem Vater. Baldwin wechselt dabei grandios zwischen verschiedenen Zeitebenen und -abläufen.
Für John, die Hauptfigur, wird deutlich, dass er sich dieser religiösen Auffassung entzieht, sie überzeugt ihn nicht: Er wird von seinem Sündenbekenntnis eben nicht von Gott gerettet, sondern von Elisha. Die Anerkennung seines (Stief-)Vaters, des Predigers, erlebt er gleichfalls nicht, denn seit sein Bruder auf der Welt ist, zählt nur dieser als der wahre Sohn, trotz allen Fehlverhaltens und der Tatsache, dass John im Gegensatz zu ihm “denken” kann. Aber das weiß nur der Leser.
Die Analyse des Romans von Boris von Berg kann ich weitgehend zustimmen, aber nicht dem Fazit.
Danke für Ihren Kommentar! Vielleicht hätte ich doch besser «Nichts für Atheisten» als Überschrift gewählt. Ich bleibe dabei, sprachlich bewegt sich der Roman auf dem Niveau «naivster Erbauungsliteratur», wenn man also, wie ich das unbedingt tue, Literatur als Kunstgattung ansieht, dann ist mein Fazit absolut gerechtfertigt.
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