Man muss nicht, wie einige Rezensenten immer wieder suggerieren, der Meinung sein, dass aus Europas Norden seit Jahren per se die besten Krimis kommen. Aber man muss doch zugeben, dass aus der Tatsache, dass es Regionen gibt, in denen der Sommer keine Dunkelheit und der Winter kein Licht kennt, Umstände erwachsen, die für die Entwicklung einer Dramaturgie in einem Kriminalroman zumindest nicht ganz abträglich sind.
Bekannt ist auch, dass der Mensch zwar ein sehr anpassungsfähiges Wesen ist, sich aber auch nicht an alles klaglos gewöhnen mag. Und so weist beispielsweise Island, die Heimat des Autors dieses Buches, eine sehr beachtliche Selbstmordrate auf. Da im gleichen Zuge auf dieser sehr nördlichen Insel offensichtlich nicht häufig Morde geschehen, entwickelt sich die Aufklärungsarbeit einer isländischen Mordkommission etwas langatmiger, als dies vielleicht in – sagen wir mal – New York üblich ist.
In diesem, schon 2004 in deutscher Übersetzung erschienenen mittlerweile sechsten Krimi von Arnaldur Indridason taucht die Leiche, die einen »Fall« und damit Ermittlungen auslöst, erst Jahrzehnte nach ihrem Ableben auf. Auftauchen ist dabei das denkbar schlecht gewählteste Wort, da nicht sie, sondern der See abtaucht, auf dessen Grund sie offensichtlich 30 Jahre lang lag. Während Kommissar Erlendur und seine Kollegen Elínborg und Sigurdur Óli (die Frage, wie man sich isländische Namen und Vornamen und die sprachliche Unterscheidung zwischen Mann und Frau merkt, ist ein eigenes Thema) sich auf die Suche nach der Identität des Skeletts machen, entwickelt sich vor dem geistigen Auge der Leserin und des Lesers eine Parallelgeschichte, die im Leipzig der fünfziger Jahre spielt. Hauptdarsteller dort sind linientreue junge isländische Sozialisten, die mit einem Stipendium des Staates DDR und »betreut« durch Stasi und FDJ an der dortigen Universität studieren. Es ist die Zeit kurz vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn. Die Staatsmacht in der DDR ist noch nicht vollständig gefestigt, das Spitzelsystem voll im Aufbau befindlich.
Was das mit dem Mordfall in Island zu tun hat? Wie diese beiden Zeitebenen miteinander verflochten sind und wie dies der Autor Arnaldur Indridason literarisch verwebt, macht einen wesentlichen Teil den Lesegenusses aus. Die Geschichte wirkt zunächst verworren, um sich dann aber zu einer Höchstspannung zu entwickeln. Am Ende jedenfalls ist man sich gewiss nicht mehr so ganz sicher, welcher der düsterere Ort ist: Island oder Leipzig?