Die Geschichte von Herrn Lehmann war weitestgehend auserzählt, er war ja auch nicht wirklich ein Typ, um den man sich hätte Sorgen machen müssen. Doch Sven Regener nutzt ihn auch in seinem mittlerweile sechsten Buch als heimlichen Hauptdarsteller und präsentiert die Hilfskraft als Barmann eines kleinen Westberliner Cafés, das sich dem Kreuzberger Trend der 80-er Jahre, Milchkaffee in französischen Schalen überteuert zu servieren, anschließen will.
Wie schon Roman Nummer Fünf spielt auch Regeners sechste Story in SO 36, dem sagenumwobenen Kreuzberg, konkret in der Wiener Straße kurz vorm U-Bahnhof Schlesisches Tor, wo die Welt in jenen Tagen zu Ende war und »Dunkeldeutschland« (so Konrad Adenauer) begann. Vom Zusammenbruch der DDR und dem daraus resultierenden Niedergang des Szenebezirks kann noch keine Rede sein, es gibt noch nicht einmal Nichtraucherzonen in den Trinkhallen, die Lehmanns Chef zumindest an Nachmittagen zum Schutz von Müttern und Kleinkindern in seinem »Café Einfall« einführen will.
Wir treffen alte Bekannte aus früheren Romanen wie die österreichische Aktionskünstlergruppe ArschArt um P. Immel aus der Nachbarschaft. Die Herren wollen das benachbarte Lokal »Intimfrisur« in ein Wiener Kaffeehaus umwandeln und liegen mit Hausbesetzern und Punkern aus dem Hinterhaus im Clinch.
Wie immer sind die Typen bei Regener alle neben der Spur. Da ist niemand dabei, der ein halbwegs geregeltes Leben führt oder sich gar künstlerisch profiliert. Die Herren sind samt und sonders voll verpeilt. Sie bekommen nichts auf die Reihe, weder eine Kunstausstellung noch einen sauber aufgeschäumten Milchkaffee.
Nun ist aber nicht nur Herr Lehmann zurück, sein geistiger Vater pflegt mehr denn je die Mechanik des mächtigen Mäanderns von Gesprächsströmen, die an den Stil Thomas Mann rühren, der seine Buddenbrooks oft seitenlang in einem Fluss ausschmückte. Das ist gewöhnungsbedürftig und wirkt intellektuell. Handlung im klassischen Sinne findet hingegen nicht statt. Stattdessen gibt es durchaus treffend wiedergegebenes Gelaber oder anders ausgedrückt: 470 Seiten lang Gedankenströme ohne Ende. Im besten Fall lässt sich die Geschichte als Sittengemälde einer versunkenen Zeit lesen.
»Glitterschnitter« steht dabei für eine Band, welche die Herren Charlie, Raimund und Ferdi gründen wollen. Schlagzeug, Synthesizer und eine Hilti-Schlagbohrmaschine ist die Instrumentation. Deren Reunion 1989 durfte der Leser bereits vor einem halben Jahrzehnt im Roman »Magical Mystery« begleiten, als es mit dem Technolabel »Bumm Bumm Records« auf Tour ging, um Techno und Rave der 90er mit der Love-and-Peace Sehnsucht zu versöhnen. Insofern liefert Roman Nummer Sechs einen weiteren Mosaikstein im Wimmelbild der Kreuzberger Bohème, diesmal nur früher.
Leider entwickelt sich Sven Regener mittlerweile kaum noch weiter. Waren »Neu Vahr Süd« und auch »Herr Lehmann« lesbare, lustige Bücher, kippt »Glitterschnitter«. Das sehen manche Edelfedern zwar anders, einige rufen sogar laut nach irgendwelchen Literaturpreisen für den Autor, und die wird er über kurz oder lang auch bekommen, aber sie verfehlen damit den Punkt. Den wiederum trifft Sören Heim in seinem Literaturblog, der den ultranaturalistischen Stil des Werks treffend als »endloses Geplapper« bezeichnet.
Mein persönliches Fazit: Das Buch unterhält. Man freut sich, alte Bekannte wiederzutreffen. Doch dieses Konzept funktioniert nicht in Endlosschleife. Und es scheint fast, als habe Sven Regener noch genügend Puste, um weitere Puzzleteilchen der Lehmann-Story zu Papier zu bringen.
Hi (es übt, sich kurz zu fassen; wir berichteten erst höchstens 17 Male)!
Das mit den “Satzungetümen” ist aber nun unter allen standardisierungsfähigen Floskeln wirklich der durch gekauten eine; zudem Regener eigentlich die “Technik” (oder wie man das nennt) des Bewusstseinsstromes pflegt, während der Große Lübecker Wortsetzmeister “nur” klassisch die Kulissen beschrieben hat, und das war keine Attitüde (ein Wort, dessen Bedeutung ich schon kannte, bevor die ganz ausgezeichneten “Ärzte” es quasi massenkompatibel machten), sondern Ausdruck des Bemühens, so genau, nachvollziehbar, gründlich usw. wie möglich eine untergegangene Welt zu schildern, und dasselbe hat auch Erwin Strittmatter in seiner “Laden”-Trilogie getan, nur kann man da nicht mit dem Argument bzw. “Argument” kommen, er würde furchtbar mäandernde Satzkaskaden produzieren, dennoch auch sein Erfolg unter anderem darauf zurückzuführen sein dürfte, dass er eine Lebenswelt mit höchstmöglicher Gründlichkeit, Detailtreue usw. aufgehoben hat im mehrfachem Sinne, einmal im Sinne von “auf eine höhere Stufe heben” und dann im Sinne von “Konservieren”; zudem aber hat es Thomas Mann selbst klar ausgesprochen, dass nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend wäre; schließlich aber wollte T. M. eigentlich Musiker werden und sind denn seine kunstvoll verknüpften Wort-Teppiche in der Tat Musik in Prosa, und ich glaube, mir sicher sein zu dürfen, dass ich nicht der Erste bin, heule heule heule, der den Gedanken in sich keimend und gar blühend erleben durfte, dass es doch angebracht und sinnvoll und jedenfalls möglich sein müsste, die vom Großem Lübecker Wortsetzmeister “nur in Prosa” aufgezeichneten Kompositionen des schauerlichen Meisters Adrian Leverkühn mit der postmodernen Digitaltechnik in Klänge umzusetzen, ach…
Und übrigens zeigt sich bei Regener ein Antrieb, der mich immer wieder beschäftigt (und ich darf das, denn ich bin schizotyp, wenn nicht gar tatsächlich borderliniert), nämlich das Verlangen, den Bereich, über den man sich geeinigt hat, dass er die sogenannte Realität wäre, auch oder gerade in den sozusagen Sektoren zu erreichen (“Achtung, Sie verlassen den Sektor Ihrer Sozialisation!”), die nicht der eigenen Prägung oder gar Konditionierung zu entsprechen scheinen; Regener war Mitglied einer Kommunistischen Partei, was immer das sein mag, und schreibt wie der Großbürger M, ha!
Mit ausgezeichneter Zerknirschung verbleibt
Herr Koske