Anfangs dachte ich, das Vorgängerbuch Sapiens, das 25 millionenfach verkauft wurde, müsste ich vor diesem gelesen haben; der Autor bezieht sich gerne darauf. Dann aber überzeugte die Fülle der Beispiele dieses Buches. Diese „kurze Geschichte“ des Historikers hat mehr als sechs hundert Seiten, einhundert davon sind Quellenangaben.
Im Prolog steht die „zentrale These“, dass die Menschheit ihre Macht durch kooperative Netzwerke aufgebaut hat, „dass jedoch die Konstruktionsweise dieser Netze dem unklugen Gebrauch dieser Macht Vorschub leistet.“ Die Gefahr hat sich durch KI vervielfacht:
“Wer China, Russland oder die postdemokratischen Vereinigten Staaten als Hauptgefahr für einen totalitären Albtraum erachtet, hat die Gefahr nicht verstanden. Die wahre Bedrohung für Chinesen, Russen, Amerikaner und die gesamte Menschheit ist das totalitäre Potenzial der nicht-menschlichen Intelligenz“. Denn die KI kann miteinander kommunizieren, Entscheidungen treffen, die von Menschen nicht verfolgt, geschweige denn, kontrolliert werden kann. Und sie kann Bilder malen, Musikstücke komponieren. Irgendwo beschreibt er sie als Alien Intelligence.
Es werden die Narrative beschrieben, die Vorstellungen zu Moral, zu Religion bestimmen. Mit Beispielen vom Redigieren der Bibel, die von Juden und diversen Christen über die Jahrtausende erfolgt sind. Ein anderer Interessensschwerpunkt sind Nationalsozialismus und Stalinismus.
Auch Nationen gibt es dann erst, wenn sie eingeführt und begleitet sind durch Sprache, Literatur, Kultur eben. Hier ist die Entstehung Israels sein Schwerpunkt.
Die Folgen der Entdeckung des Buchdrucks erinnerten mich an die Zeit vor etwa vierzig Jahren, als das Internet erfunden worden war: Viele erhofften sich eine Vermehrung von Wahrheit, von Weisheit, und das vor allem bei der Allgemeinheit…
Und nach der Entdeckung des Buchdruckes? Da vermehrten sich üble Nachrede und Hexenjagd, der Hexenhammer wurde eines der meistgedruckten Bücher.
Während Wissenschaftler der Meinung sind, das Information zur Wahrheit und auch zu Weisheit und dann Macht führt, gilt im populistischen Verständnis, dass sie an sich schon Macht sind und genutzt werden.
Harari weiß viel über das Informationsmonopol in der Sowjetunion, wie Stalin auch deswegen nach seinem Schlaganfall keine rasche medizinische Hilfe bekam. Und wie war es bei Tschernobyl? Damit in der Bevölkerung keine Panik ausbricht, wurden Telefonleitungen gekappt, erst als in Schweden die Werte stiegen, reagierte die Staatsmacht, wie viele Tote hätten verhindert werden können?
Trotz dieser reichen Auswahl historischer Bezüge geht es Harari um die Zukunft. Er ist skeptisch und zitiert dann gerne E. Musk, der 2023 erklärte: “Ich beginne etwas, was ich Truth GPT nenne, eine maximal wahrheitssuchende künstliche Intelligenz, die versucht, die Natur des Universums zu ergründen.“
Ausführlich werden Strategien der social Media Bosse beschrieben, am Beispiel Facebooks zum Mord der Rohingya in Myanmar. Man hatte beobachtet, dass Hassbotschaften länger Interesse wecken, die Nutzer so am Netz bleiben und gewinnbringende Daten gewonnen wurden.
Die Aspekte, unter denen er die zukünftige Rolle der KI beschreibt, sind immer überraschend: Was sind die Strategien derjenigen, die sie einsetzen? Also wird beschrieben, was v. Clausewitz vor Jahrhunderten zur Kriegsführung schrieb.
Wie lebt es sich in einem Überwachungsstaat, etwa in China, wo auch das Verhalten in der Freizeit mit Punkten, (überhaupt die Diktatur der Likes!) versehen wird: „das ganze Leben ein Vorstellungsgespräch.“
Nach 85 Seiten zum Kapitel „Fehler—das Netzwerk liegt häufig falsch“, benennt er auch die Vorteile: Harari, der in Israel in einem kleinen Dorf aufwachsen ist und als Heranwachsender niemanden fand, mit dem er über seine Homosexualität reden konnte, sieht auch die Chancen, gerade für Gruppen, die am Rande der Gesellschaft stehen.
In diese Rezension fließen auch zwei Interviews ein, die Harari zum Erscheinen des Buches im stern und in der ZEIT gab.
Beim Dank des Autors werden wir Leser*innen bedacht: „Ein Buch ist ein Nexus zwischen Autor und Leserschaft. Es ist ein Bindeglied, das viele Köpfe miteinander vernetzt und das nur existiert, wenn es gelesen wird.“
Also: unbedingt lesen!