Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke

kaestner-1Risiken und Nebenwirkungen unbekannt

Beim Stichwort Erich Kästner dürften vielen Lesern als erstes die Kinderbücher dieses vielseitigen Schriftstellers einfallen, er war aber auch als Drehbuchautor, Publizist, Rezensent und Verfasser humorvoller Gedichte erfolgreich und benutzte dabei nicht selten auch verschiedene Pseudonyme. Als kritischer Geist, mit sozialdemokratisch engagiertem Vater, war er politisch ein scharfer Beobachter, lehnte die restaurativen Tendenzen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ab, wandte sich als Antimilitarist insbesondere gegen die deutsche Wiederbewaffnung und den Vietnamkrieg. Neben Hörfunk und Kabarett machten ihn seine kritischen Reden, Aufsätze, Reportagen, Glossen, Kabarett-Nummern, Lieder und Hörspiele, aber auch seine Gedichte schon früh sehr bekannt. Seine berühmteste Gedichtsammlung unter dem Titel «Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke» musste er im Jahre 1936, nach der Machtübernahme durch die ihn ablehnenden Nazis, zunächst in der Schweiz erscheinen lassen.

Kästner wird als ein typischer Vertreter der «Verlorenen Generation» in der Weimarer Republik der «Neuen Sachlichkeit» zugerechnet, jener in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen aufkommenden Tendenz zu einer resignativ sachlichen, ernüchterten, illusionslosen Literatur. Seine Gedichte zählen nach einem von Bertolt Brecht geprägten Begriff zur «Gebrauchslyrik», er ist wie dieser und neben Kurt Tucholsky einer ihrer wichtigsten Vertreter. Kennzeichnend für deren Stil ist die Zweckbestimmtheit des Textes, der Leser soll durch die Lektüre auf Probleme, Widersprüche, Missstände direkt hingewiesen werden und sofort seinen Nutzen daraus ziehen. Dabei steht also stets die leichte Verständlichkeit im Vordergrund, alle Gedichte sind dementsprechend sprachlich einfach formuliert und ohne komplizierte Versformen aufgebaut, sie sollen ihre Wirkung sofort, unmittelbar entfalten.

In der vorliegenden Anthologie, die im Gegensatz zu vorhergehenden Gedichtbänden von Kästner völlig unpolitisch ist, hat der Autor im Vorwort angemerkt: «Es war seit jeher mein Bestreben, seelisch verwendbare Strophen zu schreiben». Er definiert folglich seine Sammlung als »Ein Nachschlagewerk, das der Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens gewidmet ist». Und erläutert: «Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles das sind bewährte Heilmethoden». Er stellt den Gedichten eine Gebrauchsanweisung voraus, in der er für 36 verschiedene mentale Wehwehchen die jeweils hilfreichen der insgesamt 119 Gedichte als lindernde Medizin verschreibt. In dieser literarischen Apotheke findet man also für jede seelische Beschwerde die darauf abgestimmte Therapie, schon Marcel Reich-Ranicki hatte im Warschauer Getto darin Trost gefunden, berichtet er in seiner lesenswerten Autobiografie.

Lyrik, sei hier gestanden, lasse ich als Leser strikt außen vor bei meinen Streifzügen durch die belletristische Literatur, – Gereimtes à la Kästner allerdings bildet da die Ausnahme. Kein Prosawerk kann so kurz und bündig, so ironisch auf den Punkt gebracht, Zeitkritik üben, menschliche Marotten entlarven, skurrile Situationen aufzeigen, den Alltag demaskieren. Buchstäblich jedes von Kästners Gedichten gäbe Stoff her für einen veritablen Roman, nichts Alltägliches ist seinem wachen Geiste fremd. Seine Reime sind allerdings nicht immer überzeugend gelungen, es ist kein eleganter Stil, den er da schreibt, verglichen mit anderen Lyrikern seiner Zeit. Gleichwohl, mal lustig, albern sogar, mal traurig, immer bissig, bitterböse zuweilen, zeigt uns Kästner als Moralist unsere Welt augenzwinkernd aus kritischer Distanz. Und das mit einem selten anzutreffenden Wortwitz, der das Lesen dieses humorvollen Ratgebers zum puren Vergnügen werden lässt. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, – oder ihren Buchhändler!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Lyrik
Illustrated by dtv München

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