Ada

Berkel erzählt die Geschichte seiner großen Schwester in Ichform. Bald nach ihrer Geburt, bei Kriegsende in Leipzig, verlässt die Mutter Deutschland mit ihr, sie wandern aus nach Argentinien. Der Vater ist, wenn er überhaupt noch lebt, in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Sie wächst bei einer Gutsbesitzerfamilie auf, die Mutter ist Nanny für deren Kinder und diese schikanieren die kleinere Ada. Die ersten Jahre verweigert sie die Sprache, dann aber, als sie neunjährig wieder zurück nach Deutschland kommt, spricht sie fließend Spanisch, aber kaum Deutsch. Auch hier bleibt sie Außenseiterin.

Und geträumt wird viel, zusammen mit der Freundin Uschka, die auch anderes als die anderen Kinder ist, an liebsten träumen sie von Reisen, ins westliche Ausland—bloß weg von hier.

Die Mutter versucht, sich in Deutschland eine Heimat zu schaffen. Sie war als Jüdin im Lager Gurs interniert und als Schwangere vom Transport in ein Vernichtungslager geflohen. Zwei Männer könnten Ada Vater sein, beide lernt Ada als etwa Zehnjährige kennen, einen Hannes, der schöne Hände hat, aber ein Parfum, das kitzelt, und Otto, der HNO-Arzt aus Berlin. Ada darf wählen, wer der Papa sein soll und entscheidet sich, ohne zu zögern, für Otto, da er das gewünschte Kinderfahrrad schenkt.

In den fünfziger Jahren etabliert sich die kleine Familie in Berlin. Für Ada stabilisiert sich eine Zeit des Nichtverstandenwerdens. Kinder werden dumm gehalten und dann, wenn etwas sie interessiert, ins Bett geschickt. Niemand in der Familie spricht über die Vergangenheit, deren Schwere die Eltern beide, jeden auf seine Art, belasten. Die Mutter kämpft mit der ihren, auch damit, dass ihre eigene Mutter sie als Siebenjährige verlassen hatte, um in Spanien gegen den Faschismus zu kämpfen. Auch sie hatte als Kleinkind das Sprechen verweigert.

Der Vater, ein Arbeiterkind, spricht nicht über seine Zeit als Kriegsgefangener. In den Dialogen werden die vielen belastenden Erfahrungen eben nicht ausgesprochenen, manches gezielt verschwiegen. Ada ahnt vieles, kann aber nur mit ihrer Freundin Uschka darüber sprechen, deren Anderssein besteht darin, dass sie eine adlige Tochter eines Widerstandkämpfers ist, der nach dem Attentat auf Hitler umgebracht wurde. Einige Mitschüler sehen das als Verrat.

Berkel, der 1957 geborene, schafft wunderbare Szenen der hilflosen Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit dieser Zeit. In Berlin-Frohnau, wird ein Haus gekauft, der beginnende Wohlstand genossen. Hier muss ich, die Rezensentin, mich als katholische Arzttochter outen, die, zwei Jahre jünger als Ada, auch in Frohnau aufgewachsen ist. Regelmäßig trifft sich die Familie zu Diskussionen mit anderen Arztfamilien (nein, meine zählte nicht dazu!) aber der katholische Priester Krajewski, der auch mir in Erinnerung geblieben ist, kommt gerne. Bei diesen Diskussionen wird etwa das Buch „Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von einer der Mütter als wichtiger Ratgeber vorgestellt, nur ein Teilnehmer weist darauf hin, dass es schon in der Nazizeit hochgelobt wurde.

Wir erleben in diesen Runden die Kubakrise, die Mutter glaubt, man müsse nun weg von Berlin, das Haus wird verkauft, man wohnt erstmal zur Miete. Es kommt das erste Auto, ein Mercedes, Pfarrer Krajewski weiß zu berichten, dass auch der Papst in einem solchen gefahren wird, und dann passiert der Mauerbau.

Als junge Erwachsene geht Ada ihrer Wege und lässt wenig aus. Sie ist beim Konzert der Stones in der Waldbühne, wo 1965 Randale gemacht wurde, geht in einer WG ein und aus, wir werden mit ihr zu Drogenerfahrenen, sie wird sogar kompetente Dealerin. Aber sie geht auch immer wieder nach Hause, und hört sich bekifft die bildungsbürgerlichen Diskussionen der Spießer an. Dabei wird ihr der Vater zum Löwen, die Mutter zum Schwan und der Pfarrer zur Schildkröte. Übrigens eine meiner Lieblingsszenen.

Später hört sie Rudi Dutschke in der FU, ist beim 2. Juni beim Schahbesuch dabei und noch viel später auch in Woodstock, da erfahren wir, wie es ihr beim ersten Mal mit LSD geht. Und als sie die mütterliche Tante, Modedesignerin in Paris, besuchen fährt, ist es im Mai 68. Bei diesem Besuch findet sie ihre jüdischen Wurzeln, katholisch getauft worden war sie in Argentinien, um die Staatsbürgerschaft erhalten zu können. Nachdem sie über Jahre den Kontakt zu der Familie gemieden hat, macht sie Jahre später eine Analyse und kann sich den Ihren wieder annähern.

Und der kleine Christian? Er wurde geboren, als sie 12 war, und danach wurde für sie alles noch schlimmer: Er wurde nicht so streng erzogen, durfte sein Spielzeug im Wohnzimmer liegenlassen, ihres wurde weggeworfen, hatte sie es nicht selbst aufgeräumt. Er ist nicht nur jünger und dem Vater näher, auch als Stammhalter hat er Privilegien. Aber er bewundert sie, liebt, wie sie, die Stones und als sie sich von der WG löst und wie die verlorene Tochter wieder zu Hause einzieht, wird Champagner getrunken.

Bisher habe ich diese Rezension bewusst so geschrieben, dass die geneigten Leser/innen sich der Erzähllust Berkels hingeben können über die Geschichte Westberlin aus der Sicht einer jungen Frau. Für mich war das Lesen ungleich schwieriger, da ich vor einiger Zeit das Buch Der Apfelbaum gelesen hatte, in dem Brendel als der Sohn der Familie spricht. Hier, in Ada, werden Fakten, wenn auch aus anderer Sicht, wiederholt. Im Vorspann lesen wir: “Dennoch sind es Kunstfiguren. Ihre Beschreibungen sind ebenso wie das Handlungsgeflecht, das sie bilden, und die Ereignisse und Situationen, die sich dabei ergeben, fiktiv.“ Die Frage: Warum schreibt Ada das Buch nicht selbst? Ist damit beantwortet, aber es ist an manchen Stellen schwierig, das über die Familie schon Gewusste auszublenden.

Es ist wie eine umgekehrte Verfremdung: Das Publikum, also der Leser, weiß schon vieles, über das sich die Akteure noch nicht im Klaren sind. Während Berkel sich im Apfelbaum mit viel Liebe und Respekt den Eltern nähert und sie bis zu ihrem Tod begleitet, ist Ada eher die gekränkte, ungehobelte, die die psychische Krankheit der Mutter, den Jähzorn des Vaters schonungslos auf- und anzeigt. Vielleicht hatte sie dazu eher Recht?

Beide Bücher sind lesenswert. Meine Empfehlung: Wenn sie beide Bücher lesen wollen, dann fangen Sie mit Ada an! Wenn sie nur eines lesen wollen, dann lieber den Apfelbaum. Eigentlich muss ich den nun auch noch rezensieren.


Genre: Politik und Gesellschaft, Zeitgeschichte
Illustrated by Ullstein

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert