Es glimmt doch noch
«Die Glut ist erloschen» wurde im Feuilleton getitelt über den 1948 erschienenen Roman »Die Möwe» von Sándor Márai, damit hinweisend auf dessen sechs Jahre vorher entstandenen, wahrlich grandiosen Roman «Die Glut». Man findet in beiden Werken die für diesen ungarischen Schriftsteller typischen literarischen Stilmittel, als da wären: Eine kammerspielartige Szenerie, eine gescheiterte Liebe als schicksalhafte Thematik, weit ausholende, melancholische Reflexionen, oft ins Monologische abdriftende, lange Dialoge, geheimnisumwehte, rätselhaft bleibende Protagonisten, und auch der Tod ist immer dabei als thematisches Grundelement.
Ein namenlos bleibender Ministerialrat in Budapest fertigt ein wichtiges geheimes Dokument aus, das erst am nächsten Tage veröffentlich werden soll. Dessen Inhalt bleibt zwar ungenannt im Roman, alles deutet aber darauf hin, dass es sich um eine militärische Aktion Ungarns im Fortgang des Zweiten Weltkriegs handelt. Als ihn in seinem Büro eine schöne junge Frau mit einer Empfehlung eines seiner Bekannten aufsucht, hat er ein Déjà-vu-Erlebnis. Er erkennt in ihr seine ehemalige Geliebte Ilona, die sich einst aus unerklärlichen Gründen mit Blausäure das Leben genommen hat, – die Ähnlichkeit jedenfalls ist frappant! Diese Reinkarnation Ilonas ist eine finnische Lehrerin, die fließend mehrere Sprachen spricht und ihn um eine Arbeitserlaubnis für Ungarn ersucht. En passant thematisiert Marais hier also auch das Phänomen der finno-ugrischen Sprachenfamilie, die Finnin spricht perfekt Ungarisch. Spontan lädt der Mann die Frau für den Abend in die Oper ein, genießt die Aufmerksamkeit, die die ebenso schöne wie elegante Frau in seiner staatlichen Opernloge beim neugierigen Publikum erregt, anschließend gehen sie noch auf einen Kaffee in seine Wohnung. Zu dem Kaffee kommt es aber nicht, die Beiden beginnen ein schier endloses, tiefgründiges Gespräch, irgendwann küsst er sie spontan. Es bleibt bei diesem einen Kuss, sie duzen sich fortan, aber spät in der Nacht möchte sie gehen: «Öffne die Tür und entlasse mich auf meinen Weg». Und als er sie begleiten will: «Du weißt genau, […] dass es die größte, die einzige Höflichkeit ist, wenn du mich nicht begleitest. Ich sage es noch einmal, entlasse mich auf meinen Weg. Ich sage es deinetwegen und meinetwegen». Er bleibt allein zurück. Der letzte Satz des Romans lautet dann: «Er geht durch das Zimmer wie ein Blinder – und doch so, als führte ihn jemand».
Es ist ein intensiver Gedankenaustausch zwischen den beiden so ungleichen Menschen, die sich nicht kennen und die ein unwahrscheinlicher Zufall zusammengeführt hat vor dem historischen Hintergrund des Kampfes zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa. Diesen ideologischen Konflikt verdeutlicht die titelgebende Möwe, ein Vogel, der nur nach rechts und links sehen kann und nicht nach vorn, weil er keine Stirn hat mit Augen darin, den verbohrten Politikern damit ähnelnd. Aus dem Roman spricht die tiefe Resignation seines Autors angesichts der politischen Zustände jener Zeit, aber auch seine weitgehende Skepsis gegenüber dem Leben selbst. Die Sinnsuche ist das große Thema, das ihn umtreibt. Er beklagt zudem den tumben Massenmenschen als neues soziologisches Phänomen sowie den weit fortgeschrittenen moralischen Verfall der Gesellschaft.
Erzählt wird all das sehr eindringlich in einer wohlklingenden, dichten Sprache, wobei das zentrale Zwiegespräch einen großen Teil der Geschichte ausmacht. Die Dialoge werden oft durch innere Monologe des Ministerialrats ergänzt, häufiger noch wird in der Form des Bewusstseinsstroms erzählt. Der 1989 durch Suizid aus dem Leben geschiedene Autor verleiht mit seinem depressiven Duktus der Geschichte etwas Zwingendes, dem man sich kaum entziehen kann, so elementar ist die Thematik, die seine metaphernreiche Sprache dem geneigten Leser nahe zu bringen sucht. Die Glut seines literarischen Feuers glimmt also immer noch, auch in diesem tiefsinnigen Roman.
Fazit: erfreulich
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