Das auf ewig Unfassbare
Die französische Autorin Marguerite Duras ist als prägende Vertreterin des «Nouveau Roman» bekannt, ein Begriff, den Roland Barthes für eine neue Gattung in der Literaturwelt etabliert hat. Mit dem Band «Der Schmerz» hat sie 1985, wie sie im Vorwort schreibt, alte Texte veröffentlicht, die sie vier Jahrzehnte nach der Niederschrift in ihrem Landhaus wiedergefunden hatte, an deren Existenz und erst recht an deren Entstehung sie sich absolut nicht mehr erinnern konnte. «Ich stand vor einer phänomenalen Unordnung des Denkens und des Fühlens, an die ich nicht zu rühren wagte und der gegenüber ich die Literatur als beschämend empfand». Der Stil, in dem sie verfasst sind, weist allerdings schon deutlich auf ihre später erschienene Prosa einer distanziert beschriebenen, eigengesetzlichen Welt hin.
Im ersten, fast die Hälfte des gesamten Buches umfassenden Teil mit dem Titel «Der Schmerz» schreibt die Autorin in chronologischer, tagebuchartiger Form über die albtraumhafte Trennung von ihrem Mann, der kurz vor Kriegsende als Mitglied der Résistance von den Nazis nach Deutschland deportiert wurde. Nach der Befreiung des KZs Buchenwald im April 1945 wartet sie verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm, sie klammert sich wie eine Ertrinkende an jeden Strohhalm, verfolgt unbeirrt jede Spur, geht jedem Gerücht nach. Ein Auf und Ab der Gefühle, sie will wenigstens Gewissheit, und wenn es nur die im höchsten Grade wahrscheinliche Bestätigung seines Todes ist. Eines Tages kommt dann ein Anruf von Morland, einem Mitstreiter aus der Résistance, der in Wirklichkeit François Mitterand heißt, der spätere Staatspräsident Frankreichs: Ihr Mann lebe, man habe ihn im KZ Dachau aufgespürt. Halbtot wird er nach Paris gebracht, er ist nur noch ein menschliches Wrack, sterbenskrank, ohne realistische Überlebenschancen. Das Unwahrscheinliche geschieht gleichwohl, er überlebt und kommt ganz allmählich wieder zu Kräften, schreibt schließlich sogar ein Buch über seine Erlebnisse in Deutschland. Nach langen Monaten der Rekonvaleszenz kann sie ihm dann schließlich sagen, dass sie sich scheiden lassen müssen, dass sie ein Kind wolle, von einem anderen Mann. Trotzdem sitzt das Trauma ihrer durchlittenen Ängste auch nach mehr als einem Jahr immer noch so tief, dass sie schon zu weinen anfängt, sobald sie nur seinen Namen hört. Das Schreiben über diese Rückkehr, ihr Versuch, etwas über diese erloschene Liebe zu sagen, löst allmählich ihre ungeheuren inneren Spannungen. Und so schreibt sie, geradezu erleichtert, als Schlusssatz: «Ich wusste, dass er es wusste – dass er wusste, dass ich zu jeder Stunde eines jeden Tages dachte: Er ist nicht im Konzentrationslager gestorben.»
Der zweite Teil beginnen mit der Geschichte eines Gestapomannes, der am 1. Juni 1944 ihren Mann verhaftet hat, «eine bis in die Einzelheiten wahre Geschichte», wie sie im Vorwort schreibt. Durch den Kontakt mit ihm erhofft sie sich Informationen über ihren Mann, aber auch die Résistance profitiert davon. Beide belauern sich gegenseitig, es ist ein permanentes Katz-und-Maus-Spiel – bis zur Befreiung von Paris durch die Alliierten. Es folgen zwei Geschichten, im Vorwort als «heilige Texte» bezeichnet, über die sie dort schreibt: «Thérèse, das bin ich. Die, die den Denunzianten foltert, das bin ich. Die, die gern mit Ter, dem Milizionär, schlafen möchte, ebenfalls ich». Es folgen zum Schluss zwei weitere kleine, fiktionale Texte.
Mit der für sie charakteristischen schlichten, geradezu kargen Sprache und den besonders im Tagebuchteil vorherrschenden, stakkatoartigen Kurzsätzen wahrt Marguerite Duras die Distanz zu dem Grauen, über das sie schreibt und das den Leser, vermutlich gerade dadurch, besonders tief berührt. Ein lesenswerter Beitrag zum unmöglich erscheinenden Verständnis des auf ewig Unfassbaren!
Fazit: lesenswert
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