Tomás Nevinson

Der letzte Roman des Romanciers Javier Marías

Tomás Nevinson. Das auf Deutsch 2019 erschienene „Berta Isla“ bildet mit “Tomás Nevinson”, das im Todesjahr des spanischen Autors, 2022, erschien, quasi ein Roman-Diptychon über die beiden gleichnamigen Eheleute. Javier Marías nennt seine beiden Romane im Nachwort zu vorliegender Ausgabe ein “Paar”, kein Fortsetzung. In seiner schon zuvor unter Beweis gestellten “Poetik der Abschweifung” gibt sich Javier Marias wieder ganz seinem eigentlichen Leitmotiv hin: die Unmöglichkeit, den anderen wirklich zu kennen.

Tomás Nevinson: Don’t linger and delay!

Bertram “Bertie” Tupra, der Chef des Geheimdienstes wendet sich erneut an Tomás Nevinson, der eigentlich mit seinem alten Arbeitgeber schon abgeschlossen hat. Seine Ehe mit Berta Isla war aufgrund seiner Arbeit tief zerrüttet worden, wovon der quasi erste nach ihr benannte Teil des Roman-Diptychons ausführlich Beweis ablegt. Zwischen der spanischen ETA und der irischen IRA, beides zwei Terrororganisationen, die die Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts beherrschten, so wie es heute die Dschihadisten tun, musste Tomás mit seinem natürlichen Talent für beide Sprachen dem Geheimdienst stets zur Stelle sein. Auch dieses Mal, im quasi zweiten Teil, sind wieder seine Sprachkenntnisse gefragt, denn er soll für Tupra eine nordirische Terroristin namens Magdalena Orue O’Dea enttarnen.

Drei Frauen im Terrorverdacht

Als Deckidentitäten wurden vom Geheimdienst drei Frauen eingekreist, die als Magdalena in Frage kämen: Maria Viana, Celia Bayo und Inés Marzán. Alle drei leben im Nordosten von Madrid in dem Städtchen Ruan. Nevinsons Aufgabe ist es nun, die “richtige” der drei Frauen als Magdalena Orue O’Dea zu identifizieren und dann zu liquidieren. Er hatte in seiner Laufbahn beim Geheimdienst schon zwei Männer umgebracht. Nun tut er sich allerdings als Vertreter der alten Schule noch etwas schwer bei dem Gedanken, eine Frau umzubringen. Erst als ihm sein Arbeitgeber, Tupra, unter Druck setzt und meint, ansonsten alle drei zu füsilieren, wenn er sich nicht für eine entscheiden könne, beginnt Nevinson zu spuren und will die Mordtat umsetzen. So kann er wenigstens zwei der drei Frauen “retten”. Aber genauso gut kann es sein, dass er selbst zum Opfer der Terroristin wird, da diese längst Lunte von seinem Vorhaben gerochen hat. Wird als der Verfolger bald zum Verfolgten? Auch dadurch erreicht Javier Marías ein “Moment der letzten Spannung”, das die Handlung in der Peripetie des Romans jederzeit wieder herumreißen könnte.

Der rote Faden: (Un-)Schuld

Als roter Faden des Romans kann zweifellos die Frage gelten, ob es legitim sei, einen Menschen zu töten, um ein Blutbad an der Menschheit zu verhindern. Marias bringt dabei immer wieder das Beispiel eines vermeintlichen Hitler-Attentäters, der diesen vom Wald in Berchtesgaden zwar im Korn hatte, beim Laden einer echten Patrone aber erwischt und verhaftet wird. Dieses vereitelte Attentat ist quasi die Mise en abyme des Romans Tomás Nevinson und der Person Tomás Nevinson. Lassen sich Schuld und Unschuld eines Menschen zweifelsfrei erkennen und vor allem beweisen? Und darf man einen Menschen töten, um ein größeres Verbrechen zu verhindern? Im Falle Hitlers wäre diese Antwort zweifellos einfacher mit “Ja” zu beantworten, als im Falle von Magdalena Orue O’Dea. Denn die Terroristin ist ja seit einiger Zeit untergetaucht und bereut vielleicht ihre Taten bereits.

Reue nur durch Misserfolg

Aber ist diese Reue ausreichend für eine Entschuldung? Die Massaker der Vergangenheit wiegen schwer und auch die Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation, die vor allem zivile Opfer im Visier hat, wäre eigentlich schon Grund genug, sich mit Schuld zu beladen. Und überhaupt Reue! Der einzige Grund zur Reue sei nicht nur bei einem Mörder der Misserfolg. “Dass ein Spiel schiefgeht. Die gelungenen beklagt man nicht, auch nicht die ungestraften.” Wenn es die mangelnde Reue ist, die einen Menschen vom Unschuldigen zum Schuldigen stempelt, sind wir dann nicht alle verurteilenswert? Und noch eine Frage steht ganz deutlich im Raum dieses Jahrhundertromans: Machen wir uns alle nicht gegenseitig etwas vor?

Maxime des 21. Jahrhunderts

Ist die Lüge nicht längst zum geheimen Credo dieses so scheußlich gewordenen 21. Jahrhunderts geworden? Die Lüge und die Täuschung, ja. Javier Marías’ letzter Roman ist voller Anspielungen und Zitate, darunter auch eine Huldigung an die drei Musketiere von Alexandre Dumas u.v.a.m. Aber auch Beispiele aus der Geschichte holt der Autor aus dem Vergessen und flechtet sie ein in diesen Roman der Abschweifung. Der Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen zeigt auch in seinem letzten Roman, dass es der Zweifel und der Selbstzweifel sind, die uns eigentlich zu den Menschen machen, die wir sind. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.

Javier Marías
Tomás Nevinson. Roman.
Übersetzt von: Susanne Lange
2022, Hardcover, 736 Seiten
ISBN: 978-3-10-397132-3
S. FISCHER Verlag


Genre: Krimi, Roman, Spanien
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Berta Isla

Literarisches Denken

In seinem neuesten Roman «Berta Isla» spielt der spanische Schriftsteller Javier Marías bereits im Titel auf seine besondere Thematik an, die eher unbekannte Seite des Agentenlebens nämlich, gesehen aus der arglosen Perspektive der Ehefrau eines britischen Geheimagenten. Sie ist zu einem einsamen, isolierten Inselleben gezwungen, das ihre Beziehung zunehmend belastet. Der als Kandidat für den Nobelpreis gehandelte Autor siedelt seine Geschichte auch hier wieder mal im universitären Milieu an, sein Protagonist ist ein extrem sprachbegabter Oxford-Absolventen. Und auch hier ist es ein geradezu mustergültig konstruierter Plot mit verblüffenden Wendungen des Geschehens, sein literarisches Markenzeichen geradezu, welches auch ohne die spektakuläre «Action» eines Spionagethrillers den Leser allein schon durch seine Gedankentiefe ans Buch fesselt.

Berta Isla wirft schon auf der Schule in Madrid ein Auge auf den charismatischen Tomás, der mit einem englischen Vater und einer spanischen Mutter zweisprachig aufgewachsen ist. Beides sind für ihn Muttersprachen, die er mit seinem ungewöhnlichen Sprachtalent in vielen Slangs, Dialekten und regionalen Färbungen zur Verblüffung und Erheiterung seiner Freunde so perfekt beherrscht, dass er als Stimmenimitator auftreten könnte. Er geht zum Studium nach Oxford und gerät durch einen ihm angelasteten Mord in die Fänge des britischen Geheimdienstes, der ihn zu Mitarbeit erpresst, seiner Sprachbegabung wegen. Nach der Rückkehr erhält er eine Stellung in der britischen Botschaft in Madrid und heiratet endlich auch Berta, seine große Liebe, die auf ihn gewartet hat. Immer öfter aber muss er nun auf längere Reisen gehen, deren Dauer er nicht kennt, er ist wochenlang, manchmal monatelang unterwegs und für Berta dann nicht mal telefonisch zu erreichen. Sein Eid verpflichtet ihn zur strikten Verschwiegenheit, und erst nach längerer Zeit kann die durch das ewige Warten zermürbte Berta ihn wenigstens dazu bringen, dass er ihr seine Agententätigkeit und sein Doppelleben gesteht, – sie ist aber zu absoluter Schweigsamkeit gegen jedermann verpflichtet. Die immer löcheriger werdende Beziehung des Ehepaars reißt vollends ab, als er von einer geheimen Mission nicht mehr zurückkehrt, auch seine Vorgesetzten wissen nicht, was ihm zugestoßen ist. Nach einigen Jahren wird er in beiden Ländern für tot erklärt, die nunmehr verwitwete Berta zieht ihre zwei Kinder allein auf und geht, von kurzen Affären abgesehen, keine neue Partnerschaft mehr ein, – mehr zu erzählen wäre der Spannung wegen unfair!

Javier Marías bindet in seine raffiniert konstruierte Geschichte, die zeitlich im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts angesiedelt ist, den Nordirlandkonflikt ebenso mit ein wie den Falklandkrieg, beides typische Einsatzgebiete für britische Geheimdienstler. In mehr als einem Drittel des Romans, in seinem Innenteil, schildert Berta Isla als Ich-Erzählerin ihre Ängste, Zweifel und Vermutungen, oft in Form des inneren Monologs, der auch in den beiden auktorial erzählten Außenteilen sehr häufig geschickt eingesetzt wird, um die Gedanken der Protagonisten offenzulegen. Das Erzählte ist weitgehend auf die Figuren fokussiert, es befasst sich ausgiebig mit deren psychischer Verfasstheit in einer derartig extremen sozialen Ausnahmesituation, die der Beziehung des Paares, ihrer einst unverbrüchlichen Liebe, kaum mehr Raum lässt.

Die gelassene, weitschweifige Erzählweise von Javier Marías führt den Leser in die tiefsten Winkel seiner Gedankengänge über Treue, Loyalität, Staatsräson, Betrug und Verrat, er seziert zudem akribisch Bertas komplizierte Seelenlage. Seiner Frage nach der Unmöglichkeit, den anderen wirklich zu kennen, geht er in vielen Facetten behutsam und völlig ohne Sentimentalitäten in einer geschliffenen, wohl formulierten Sprache nach. Er hat seine spezielle kontemplative Erzählmethode als literarisches Denken bezeichnet, – es braucht hier also Leser, die mitdenken!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Mein Herz so weiß

marias-2Was nun?

Die Halbwertszeiten aktueller Romane sind oft nach Monaten gezählt, allenfalls ein Bruchteil davon interessiert nach Jahren noch die Leser, einer jahrzehntelangen Wertschätzung aber erfreuen sich nur ganz wenige. Zu diesen besonderen Romanen gehört zweifellos «Mein Herz so weiß» von Javier Marías, einst hoch gelobt vom Feuilleton und seiner damaligen Lichtgestalt Marcel Reich-Ranicki. «Hingehen, kaufen, lesen» hatte Andreas Isenschmid in der «Weltwoche» geschrieben. Auch ich war damals begeistert von diesem Buch, und ich bin es nach erneutem Lesen heute immer noch, soviel sei vorab schon mal gesagt. Lady Macbeth spricht die Worte aus, denen der Titel des Romans entlehnt ist, «I shame to wear a heart so white». Sie hat den Mord an Duncan nicht begangen, ihr Herz ist weiß, aber sie hatte dazu angestiftet, eine Schuld, die sie letztendlich in den Selbstmord treibt. Dies ist auch das Hauptmotiv des vorliegenden Romans, der wie mit einem Paukenschlag beginnt, dem Selbstmord einer jungen Frau unmittelbar nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise. Niemand wird das Buch aus der Hand legen, bevor er nicht erfahren hat, was die Ursache war für diese rätselhafte Verzweiflungstat, der Autor hat seine Leser also fest an der Angel, und das bis zum Schluss. Und auch ich werde mich hüten, die im Roman vierzig Jahre lang eisern verschwiegenen Hintergründe wie ein Spielverderber vorab preiszugeben.

Es geht um die Macht der Worte in diesem Roman, um die Sprache als Werkzeug, um ihre Auswirkung auf das Geschehen. Ich-Erzähler Juan ist Dolmetscher von Beruf, Worte sind also sein Metier, von ihm überaus virtuos beherrscht. Er arbeitet für internationale Organisationen, ist dauernd unterwegs zwischen seiner Heimatstadt Madrid und New York, Genf, Brüssel. Bei einem seiner Aufträge lernt er Luisa kennen, die ihm als Ko-Dolmetscherin beigestellt ist, seine Übersetzung also überwachen muss. Amüsant zu lesen, wie der Small Talk zwischen zwei drögen Staatslenkern mangels Gesprächsstoff peinlich zu werden droht, wie Juan plötzlich, abweichend von den Politikerworten, eine ganz andere Frage stellt ‑ Luisa greift zum Glück nicht ein ‑ und damit erst wirklich ein sinnvolles Gespräch in Gang bringt. Als er später Luisa heiratet, nimmt ihn sein Vater bei der Hochzeitsfeier zur Seite und fragt lapidar: «Was nun»? Ehe und Liebe mit allen ihren Gefährdungen sind ein weiteres dominantes Thema dieses Romans, dargestellt an den deprimierenden, zum Scheitern verurteilten, letztendlich rein sexuellen Männerkontakten von Juans New Yorker Kollegin über die drei Ehen seines lebensgierigen Vaters Ranz bis hin zu seiner eigenen, jungen Ehe, die wenig emotional, eher cool dargestellt wird. Ranz ist im berühmten Prado-Museum angestellt, verfasst nebenbei private Gutachten über Gemälde und tätigt mancherlei dubiose, juristisch grenzwertige Geschäfte auf eigene Rechnung. Neben den Details aus der Dolmetscher-Szene erfährt der Leser also auch viel Interessantes aus der Welt der Malerei und der Museen, von Fälschern und von Kunst-Spekulanten.

Der raffiniert aufgebaute Plot ist in einer anspruchsvollen Sprache geschrieben, die mit langen Satzkaskaden und häufig zusätzlich (in Klammern) eingefügten Anmerkungen alles andere als leicht lesbar ist. Das Geschehen ergibt sich zum überwiegenden Teil direkt aus den Schilderungen des Ich-Erzählers, die Geschichte ist auffallend dialogarm aufgebaut. Weite Passagen des Romans werden in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, und oft handelt es sich dabei um ausgesprochen kontemplative Einschübe. Dezidiert leitmotivisch erscheinen mehrmals rätselhafte, nächtliche Beobachter auf der Straße, wartend zu einem Fenster hinaufschauend. Auch das Feuer wird, ziemlich unterschwellig allerdings, als Leitmotiv verwendet, und das Macbeth-Motiv taucht ebenfalls ein zweites Mal auf, vorspielartig gleich zu Beginn. Über allem Erzählten schwebt ein elegischer Hauch, südländisch lebensfroh wirkt keine der Figuren, vor allem aber Juan nicht.

«Ich wollte es nicht wissen» beginnt der erste Satz des Romans, dessen Geschichte also keine forcierte Suche ist nach der Wahrheit über ein vierzig Jahre zurück liegendes, schreckliches Ereignis. Die enthüllt sich nämlich weitgehend zufällig durch Gespräche, die unversehens Licht in die düstere Vergangenheit bringen. Der Romanheld wirkt bei alledem recht unheldisch, und pessimistisch ist er obendrein. «Was nun?» lautet denn am Ende auch für ihn die Frage. Der Wirkung all dessen kann man sich als Leser kaum entziehen.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Alle Seelen

marias-1Ein Panoptikum mit viel Hintersinn

Wo er recht hat, hat er recht, unser Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, und deshalb verzichtet auch kein Verlag auf jenen verkaufsträchtigen Satz, den auch mein Buchexemplar zitiert: «Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt». Vor etlichen Jahren habe ich «Mein Herz so weiß» von Javier Marías gelesen, der als sein bester Roman gilt und mich seinerzeit begeistert hat. Deshalb war ich nun sehr gespannt, ob sein drei Jahre vorher erstmals erschienener Roman unter dem rätselhaften Titel «Alle Seelen», der auch mit dem Untertitel «Die Irren von Oxford» herausgebracht wurde, ebenso lesenswert ist. Was ich an dieser Stelle schon mal bejahen kann.

Das einzige, was mich stört an diesem Buch, um es vorweg zu sagen, ist die Art, wie die verschiedenen Verlage es anpreisen, sei es im Untertitel, der suggeriert, es gehe um schrullige britische Figuren in diesem Roman, im Coverfoto mit einer aufreizenden weiblichen Pose, die in der Erzählung kaum Entsprechung findet, oder im Klappentext, der die Liebesaffäre ins Zentrum rückt und mit einem Zitat aufwartet, in dem von «offener sexueller Bewunderung» die Rede ist. All das kommt auch vor, aber es ist beileibe nicht das, was diesen Roman ausmacht, worauf ja schon der Buchtitel «Alle Seelen» deutlich hinweist. Der Autor ist ein Könner im Beschreiben von Menschen, denen er in seinem Roman tief in die Seele schaut, ihr Innerstes offenlegt, ihr Wesen erfasst, sich also nicht nur mit ihrem Äußerlichen, Sichtbaren begnügt. Und er ist ein Meister im Erfinden unterschiedlichster Figuren, die für uns sehr lebendig werden in seinen Schilderungen, allesamt markante Individuen, die in großer Zahl auftreten in seinem literarischen Panoptikum. Es sind wahrlich skurrilen Typen darunter, von denen uns einige gleich zu Beginn bei einem «high table» genannten Essensritual an der Universität von Oxford vorgeführt werden, vom Autor allerdings satirisch ziemlich überzeichnet. Marías hat sich da wohl einiges von der Seele schreiben müssen aus seinen Erfahrungen im Umgang mit Spinnern, Genies und Exzentrikern verschiedenster Couleur während seiner Zeit als Dozent an dieser berühmten Uni.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Der Ich-Erzähler geht für zwei Jahre als Gastdozent für spanische Literatur nach Oxford (sic!) und bandelt schon bald mit seiner verheirateten Kollegin Clare an, von der er sich, das ist vorhersehbar, am Ende wird trennen müssen. Für ihn als Spanier ist und bleibt Oxford fremd und unwirtlich, sein Aufenthalt ist also nur ein berufliches Zwischenspiel, und seine Geliebte andererseits wird Mann, Kind und Oxford niemals verlassen. Eine Liaison auf Zeit also, auch wenn er das am Ende nicht wahrhaben will und versucht, ihr beim letzten Rendezvous eine gemeinsame Zukunft schmackhaft zu machen. Sie erzählt ihm daraufhin ein beklemmendes Erlebnis aus ihrer Kindheit, das sensiblen Lesern unter die Haut gehen dürfte. War in «Mein Herz so weiß» gleich zu Beginn der Selbstmord einer gerade erst von der Hochzeitsreise zurückgekehrten jungen Frau ein ziemlicher Schock, dessen Hintergründe dann in Rückblenden erzählt werden, so ist in Clares Erzählung ganz am Ende der ebenso überraschende Selbstmord ihrer Mutter der Schock. Von Marías sehr raffiniert konstruiert auch hier, denn Clare ist als kleines Kind völlig ahnungslos, als sie ihre Mutter vom Garten aus auf einer hohen Eisenbahnbrücke entdeckt und dann mit ansehen muss, wie sie sich hinunterstürzt in den Fluss. Auch dabei ging es um Ehebruch.

Die Stärken dieses Romans sind sein klug konstruierter Plot, seine wunderbar detailgenau beschriebenen Figuren, das universitäre Ambiente mit der Literatur im Mittelpunkt. Hinzu kommen viele kluge Gedanken philosophischer Art, so zum Beispiel auch Reflexionen über den Tod, die ein genialer emeritierter Professor äußert, – etwas vergleichbar Weises zu diesem permanent verdrängten Thema habe ich noch nie gelesen.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

So fängt das Schlimme an

javier mariasSchuld und Verstrickung sind ohne Zweifel geeignete Themen für einen Längen-, Breiten- und Tiefenroman von 650 Seiten und wenn die Handlung unmittelbar nach dem Ende einer Diktatur angesiedelt ist erst recht. Dann lässt sich  genug aus dem Vollen schöpfen, um mit einer politischen und privaten Schiene sogar zweigleisig zu fahren.

Da gibt es das traurige Geheimnis zwischen den Eheleuten, dem Filmemacher Eduardo und seiner Frau Beatriz und die aus der Franco-Diktatur her rührende düstere Vergangenheit des Hausfreundes Dr. Vechten. Es wird aus der Sicht von Eduardos jungem Privatsekretär de Vere erzählt.

Man könnte das Ding eigentlich als einen klassischen Bildungsroman begreifen. Über den jungen Erzähler stürzt gar heftig die Bedeutungsschwere seiner Eindrücke und Beobachtungen herein, so sehr dass sie sich für ihn regelrecht zum  postjugendlichen Reifungsprozess auswachsen. Dennoch ist mit  Filmproduzent Eduardo die Hauptfigur eine andere. Sein  Werdegang vom privaten Haupt- und politischen Nebenkläger zum Vergeber und Vergesser darf wohl als der facettenreichste Entwicklungsstrang in dem Roman angesehen werden. Die beiden anderen wichtigen Figuren bleiben indes zur relativen Schablonenhaftigkeit verurteilt. Das gilt für den einfach nur triebhaft dauerschlechten Diktaturgewinnler Dr. Vechten ebenso wie für Eduardos Ehefrau Beatriz, die aus der Melancholie ihrer großbourgeoisen Dauergelangweiltheit kaum heraus kommt.

Immerhin versteht es Marias früh- und rechtzeitige Andeutungsmarken zu setzen, wer so seine tiefen Geheimnisse mit sich herum trägt und wer was mit sich aus zu machen hat, was dann auch zum Ende hin gekonnt aufgelöst wird. Das Lesevergnügen bis dorthin ist allerdings nicht gerade billig erkauft. Der Roman hat eine Ausschweiferitis, die einen Thomas-Mann dagegen noch zum Thriller-Autor gereichen würde. Es wird  weitaus mehr reflektiert und beschrieben als erzählt. Immer wieder spinnen sich Details und Vorkommnisse und seien sie auch vergleichsweise nebensächlich in zum Teil seitenlange Kokons des Augenblicks-Philosophierens ein. Die Betrachtungen über die Franco-Diktatur und vor allem ihrer nachträglichen gesellschaftlichen Verwerfungen, die ja einen wichtigen Kontext darstellen, gehören da noch zu den beeindruckenderen  Passagen. Ansonsten gebiert eine Fortabstrahierung die nächste. So wie auch nur Anflüge von Handlung Dramatik erkennbar werden, spült der nächste seitenlange Gedankenstrom sie wieder fort. Endlose, zum Teil halbseitenlange Relativ- und Schachtelsätze und der fehlende Verzicht auf Binsenweisheitlichkeit tun ihr übriges. So bleiben auch Doppelungen nicht aus, wenn die eigentlich dem Leser obliegende Verarbeitung der Erzählmasse noch einmal zusätzlich beschrieben und erklärt wird.

Fazit: Wer sich auf der Meta-Ebene gerne viel vorreflektieren und vorphilosophieren lässt, der ist mit dem Roman gut bedient, wer aber nicht nur vom Fortgang der Überlegungen sondern auch der Ereignisse getragen werden möchte, der bekommt so seine Probleme.

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Genre: Romane
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main