Frank Sinatra ist erkältet

Frank Sinatra hat einen Schnupfen, und der Himmel scheint einzustürzen. Das Debakel droht, weil den Meister eine Erkältung seines größten Schatzes, seiner Stimme, beraubt, und das wird besonders dann gefährlich, wenn es gerade um die Aufzeichnung einer wichtigen Fernseh-Show geht, bei der »Frankie Boy« brillieren muss. 75 persönliche Mitarbeiter beginnen zu zittern, wenn Sinatra ein Taschentuch hervorzieht und sich schnäuzt, seine Filmproduktion, seine Plattenfirma, seine Fluggesellschaft, seine Rüstungsfabrik, seine Immobiliengesellschaft und all die vielen Geschäfte, in die er investiert ist, geraten in Schieflage und fürchten um ihre wirtschaftliche Stabilität. Einen solch kritischen Moment im Leben des vielleicht einflussreichsten Sängers der amerikanischen Popmusik zu schildern, gelang Gay Talese. Der 1932 geborene Autor zählt zu den bekanntesten Vertreter des »New Journalism«, ein literarischer Reportagestil, der höchst subjektiv ist und Wert auf starke literarische Stilmittel setzt, ohne von den Fakten abzuweichen. Diese unverwechselbare Methode setzt der Autor bei seiner Beschreibung Sinatras ein.

Der eigentliche Clou der Geschichte ist, dass Talese versucht hatte, einen Interviewtermin mit Sinatra zu bekommen, jedoch von dem publicityscheuen Sänger eine Absage erhielt. Der Reporter verbiss sich darauf in das Thema und heftete sich monatelang an den Tross um den Superstar. Dutzende Interviews mit Mitarbeitern und Familienangehörigen flossen in den Tatsachenbericht ein, der von Taleses enormer Beobachtungsgabe lebt. Zur »besten Reportage des Jahrhunderts« kürte das amerikanische Magazin »Esquire« den Text, der den Autor weltberühmt machen sollte. In der Journalistenausbildung gilt die Schilderung heute als genialer Wurf, von der jeder Autor viel lernen kann. Taleses Meisterschaft erweist sich nämlich unter anderem darin, dem Sänger auf Schritt und Tritt zu folgen und mit seiner milieudichten, präzisen Schilderung feinste literarische Qualität zu liefern, ohne ein einziges Wort mit ihm gewechselt zu haben und es den Leser bemerken zu lassen.

Neben der Titelstory werden in dem neu aufgelegten Bandes neun spektakuläre Storys aus vier Jahrzehnten präsentiert, die pures Lesevergnügen bescheren. »New York: Stadt im Verborgenen« setzt den durch Gotham City streunenden, unabhängigen, für sich selbst sorgenden Straßenkatzen ein literarisches Denkmal. »Deines Nächsten Weib« beschreibt die Welt eines pubertierenden Amerikaners, der sich in einer klerikal-prüden Umgebung in eine Illustriertenschönheit verliebt und nächtens in seinem Bett besteigt. In »Vogueland« seziert der Autor die Innereien der exaltierten internationalen Modezeitschrift »Vogue«, deren RedakteurInnen »bezaubernd« statt »niedlich« sagen, ihre Leserinnen zu einem »Dinner« statt zu einer »Party« laden und einem Veloursledermantel attestieren, er sei »eine willkommene Ergänzung der Garderobe fürs Landhaus« statt »ideal für den Wochenendausflug ins Grüne«.

In »Die Brücke« verfolgt er eine Truppe aus Zirkusartisten und Nomaden, die von Ort zu Ort ziehen und gewaltige Brücken aus Stahl und glitzernde Hochhaustürme errichten. Städte, in denen ein Bauboom ausbricht, üben eine magische Anziehungskraft auf diese Typen aus, deswegen man die Männer auch »Boomer« nennt.

Besonders Boxer sind Talese ans Herz gewachsen.
In »Ali in Havanna« begleitet er anno 1996 den bereits von Parkinson gezeichneten Muhammad Ali zu einem Treffen mit Staatschef Fidel Castro nach Kuba. Das Schwergewicht bringt dem Revolutionsführer dabei einen Taschenspielertrick mit einem künstlichen Daumen bei, den Fidel spontan einstudiert. Wie Talese es dabei mit Worten schafft, ein Bild des Revolutionsführers im Kopf des Lesers zu erzeugen, das ist schon ganz großes Kino!

In »Der Verlierer« besucht Talese Floyd Patterson, den Ex-Weltmeister im Schwergewicht und öffnet dessen Seele. Er zeigt den einstmals stärksten Mann der Welt als einen sensiblen Fighter, der mit falschem Bart und Haarteilen zu seinen Kämpfen reiste, um im Fall einer Niederlage unerkannt aus der Umkleidekabine entkommen zu können. Er lässt ihn bekennen, ein echter Sieger und zugleich ein erbärmlicher Feigling zu sein und beleuchtet verborgene Kammern der Seele seines Gesprächspartners, der weiß, dass sich erst in der Niederlage das wahre Gesicht eines Menschen zeigt.

In einem dritten Porträt schließlich schildert der Reporter Joe Louis als einen Mann, der schlecht mit Geld, aber ausgezeichnet mit Frauen und dem Golf-Schläger umgehen kann. Für Amerikas schwarze Bevölkerung gab es »nichts Größeres als Gott und Joe Louis«, und Talese beleuchtet, warum das so war.

Mit seinem Buch »Ehre Deinen Vater« schuf Gay Talese übrigens die erste und bislang einzige Tatsachenschilderung aus dem Inneren der Mafia. Es ist die Geschichte der Familie Bonnano, die in den sechziger Jahren New Yorks Unterwelt dominierte. Die in dem Band enthaltene Story »Das Verschwinden« schildert die außergewöhnliche Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung, die New Yorks Pförtner auszeichnet: genau in dem Augenblick, als Mafia-Boss Joe Bonanno von rivalisierenden Mafioso vor seinem Wohnhaus entführt wird, ist der Pförtner in ein Gespräch mit dem Fahrstuhlführer vertieft und bemerkt nichts …

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Reportagen
Illustrated by Edition Freitag Berlin

Ehre Deinen Vater

Denkt der Durchschnittsleser an die Mafia, stellt er sich meist wild bewegte Schwarzweißszenen und blutige Gewalttaten vor, dramatische Intrigen und illegale Millionen-Dollar-Projekte sowie große schwarze Limousinen, deren Insassen die Gehsteige mit Maschinenpistolenfeuer überziehen. Vieles von dieser Hollywood-Version entspricht zwar der Wahrheit, aber die wesentlichen Umstände der Existenz eines Mafioso werden dabei völlig ignoriert: eine Routine endlosen Wartens, der Langeweile, der Notwendigkeit, immer wieder unterzutauchen, und die zwangsläufigen Folgeerscheinungen jener Phasen, die man in Deckung verbringen musste – Kettenrauchen, zu reichliche Kost bei zu wenig körperlichem Ausgleich, das eingesperrt Sein in Zimmern mit herabgelassenen Rollläden, die zermürbende innere Leere, der man ausgeliefert ist, während man alles tut, um am Leben zu bleiben.

Der Mythos der blutrünstigen Mafia, die eine Spur des Todes durch die USA legte, diente in den Siebziger Jahren vor allem der amerikanischen Propaganda. Während US-Truppen die grausamsten Verbrechen in Vietnam beging, der CIA in aller Welt folterte und mordete und Spezialeinheiten wie die »Green Berets« sich 1969 eines Doppelagenten entledigten, indem sie ihn töteten und die Leiche mit Ketten beschwert ins Meer warfen, war der Regierungspropaganda jedes Mittel recht, um auf den angeblichen Staatsfeind Nummer Eins abzulenken. Millionen Dollar wurden investiert, um den Polizeiapparat aufzurüsten, und die Presse überschlug sich mit bizarren Schlagzeilen und Aufmachern bei jedem Delikt, das dem organisierten Verbrechen in die Schuhe geschoben werden konnte. Dabei spielte der Einfluss der Mafia längst nicht die große Rolle, die ihr öffentlich angedichtet wurde. Vieles ähnelt dem heutigen Propagandakampf gegen die bösen Terroristen, die angeblich unser Dasein zerstören wollen, während »wir« klammheimlich Kulturstaaten in Schutt und Asche legen und aus purer Gewinnsucht Jahrtausende alte gewachsene Strukturen vernichten.

Die amerikanische Mafia ist berühmt als gefährliche Geheimgesellschaft, kriminell, undurchschaubar, aber auch faszinierend. Sie war Stoff unzähliger Romane, von denen Mario Puzos furioses Werk »Der Pate« durch die Verfilmung von Francis Ford Coppola der berühmteste ist. Es ist eine Welt, die von überlieferten italienischen Familienwerten, pompösem Lebensstil und politischen Verstrickungen bis in die höchsten Schichten Amerikas bestimmt wird. Puzo hatte allerdings nie mit einem echten Mafioso gesprochen und schrieb sein fiktionales Werk allein aus seiner Vorstellungskraft.

Der amerikanische Journalist und Autor Gay Talese liefert dagegen mit »Ehre Deinen Vater« die erste und bislang einzige Tatsachenschilderung aus dem Inneren der Mafia. Es ist die Geschichte der Familie Bonnano, die in den sechziger Jahren die Unterwelt New Yorks dominierte. Talese wandte sich im Januar 1965 in der Verhandlungspause eines Prozesses, den er für die »New York Times« beobachtete, direkt an den Angeklagten Bill Bonanno und schlug ihm vor, ein Buch über dessen Werdegang zu schreiben. Obwohl die Macht der Mafia auf jenem Gesetz des Schweigens beruht, das die Paten »Omertà« nennen, knackte Talese diesen Kodex.

In mühsamer Kleinarbeit gelang es ihm, ein Vertrauensverhältnis zu dem Mafiaboss aufzubauen. Bill Bonanno war der Sohn des berühmt-berüchtigten New Yorker Mafiabosses Joseph »Joe Bananas« Bonanno. Es war die Zeit, als Bonannos 450 Mann starke Verbrecherorganisation sich gerade in einem blutigen Krieg gegen rivalisierende Familien befand, der als »Bananen-Krieg« in die Kriminalgeschichte einging. Der Journalist begleitete ihn sechs Jahre lang, kam mit seinen Freunden und Verwandten in Kontakt und besuchte schließlich sogar die sizilianische Heimat der Bonanno-Familie.

Taleses Erzählung beginnt an einem regnerischen Tag im Jahr 1964, als Bills Vater Joseph Bonanno spurlos verschwindet. Nie wurde geklärt, ob er entführt wurde oder sich versteckt hielt, weil er die Vorladungen vor staatliche Untersuchungsausschüsse umgehen wollte. Der Autor schildert die brutale Fehde innerhalb der Mafia und schlägt einen weiten Bogen zu den Ursprüngen der Familie in den sizilianischen Bergen. Er schildert das Alltagsleben der Mafiosi und ihre Kommunikationsstruktur. Die Reportage endet mit der Verurteilung von Bill Bonanno aus fadenscheinigen Gründen und dem Antritt einer langjährigen Haftstrafe.

Gay Talese, Jahrgang 1932, gehört mit Tom Wolfe, Hunter S. Thompson und Truman Capote zu den wichtigsten Vertretern des »New Journalism«. Der Begriff für diese Stilrichtung wurde von Tom Wolfe geprägt. Es handelt sich dabei um einen Reportagestil, der höchst subjektiv ist und Wert auf starke literarische Stilmittel setzt, ohne jedoch von den Fakten abzuweichen. »Ehre Deinen Vater« liest sich wie ein Roman, tatsächlich ist es eine bis ins kleinste Detail wahre Geschichte, die spannender ist als jede Fiktion. Es handelt sich bei dem vorliegenden Werk um eine der besten Reportagen, die je veröffentlicht wurden.


Genre: Reportagen
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

Frank Sinatra ist erkältet

Gay Talese und seine Kollegen Tom Wolfe und Hunter S. Thompson gehören zu den bekanntesten Vertretern des sogenannten New Journalism. Talese beschrieb seine Art der Recherche einmals als »the fine art of hanging around«. In dem vorliegenden Band werden Stories aus vier Jahrzehnten vorgestellt, mal ist es eine Geschichte über die Stadt New York, in der wir unter anderem etwas über die umherstreunenden Katzen der Großstadt erfahren. Eine andere Geschichte entführt uns nach Kuba, als der Boxer Muhammad Ali mit großem Gefolge der Insel und Fidel Castro »an einem warmen, windigen Winterabend« einen Besuch abstattet.

In der Titelgeschichte »Frank Sinatra ist erkältet« versucht Talese wochenlang, an den bekannten Sänger heranzukommen, was aber immer wieder scheitert, da Sinatra tatsächlich erkältet oder einfach schlecht gelaunt ist. Stattdessen erfährt der Leser Erstaunliches über Freunde und Umfeld von Sinatra und deren Milieu.

Eine großartig recherchierte Reportage ist »Die Brücke«. Hier erfährt man die wichtigsten Dinge über den amerikanischen Stahl- und Hängebrückenbau. Wir erfahren etwas über Boomer und Punks, über die Hierarchie und Rivalität der Arbeiter bei ihrer äußerst gefährlichen Tätigkeit.

Der Band »Frank Sinatra ist erkältet« besteht aus zehn großartig erzählten, unaufgeregten Geschichten, in denen sich der Erzähler im Hintergrund hält, und deren Lektüre ein einziges Vergnügen ist.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin