Heute so wichtig wie ehedem
Pünktlich zu ihrem 90ten Geburtstag erschien vor wenigen Tagen unter dem Titel «Liebe Kitty» erstmals das Fragment eines Briefromans von Anne Frank, der sich auf ihr weltberühmtes Tagebuch stützt. Dem Buch ist in Anhang ein hilfreiches Essay von Laureen Nussbaum beigefügt, emeritierte Professorin der Literaturwissenschaft an der Portland State University, die nicht nur als kompetenteste Expertin der Anne-Frank-Forschung gilt, sondern die sie von ihrem Amsterdamer Exil her auch persönlich kannte, sie waren Nachbarn und gingen auf die selbe Schule. Nussbaum verdeutlicht darin die komplizierte Editionsgeschichte, denn neben der Urversion des Tagebuchs gibt es auch eine in den Monaten vor ihrer Deportation überarbeitete zweite Version, zu der Anne Frank durch einen Rundfunk-Aufruf des holländischen Exil-Ministers für Schule, Kunst und Wissenschaften angeregt wurde. Darin forderte er die Bevölkerung auf, Tagebücher und Briefe für die Zeit nach dem Krieg sorgfältig aufzubewahren, sie sollen dann als realistische Grundlage für die zukünftige Geschichtsschreibung dienen.
Durch Vermischung dieser beiden, glücklicher Weise weitgehend erhalten gebliebenen Textfassungen hat Annes Vater, der den Holocaust als einziger überlebte, nach dem Krieg die zur Veröffentlichung gelangte und bis heute gültige Tagebuch-Version zusammengestellt, – mit einigen Korrekturen seinerseits von ihm peinlich erscheinenden Textstellen. «Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel ‹Das Hinterhaus› herausbringen, ob das gelingt, ist auch die Frage, aber mein Tagebuch kann dafür nützlich sein». Der vorliegende «Romanentwurf in Briefen» ist der löbliche Versuch, den Wunsch Annes, «einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden», postum nun doch noch zu verwirklichen. Die «Kitty» im Buchtitel ist das gründlich überarbeitete Tagebuch selbst, die Autorin richtet darin ihre ursprünglichen Notizen in Briefform mit dem Datum des jeweiligen Tagebucheintrags in personalisierter Form an diese imaginäre Freundin.
Die 1933 vor den Nazis nach Amsterdam geflüchtete jüdische Familie Frank muss sich wegen der drohenden Deportation 1942 in einem unzugänglichen kleinen Hinterhaus-Anbau der vom Vater geleiteten Firma verstecken. Neben Anne, ihrer Schwester und den Eltern sind noch eine zweite Familie mit einem Sohn und ein Zahnarzt in dem Versteck untergebracht. Versorgt werden sie von loyalen Mitarbeitern der Firma, die sich aufopfernd und mit hohem persönlichen Risiko um die acht versteckten Juden kümmern, ein sicherlich seltener Glücksfall in dieser Zeit der Nazi-Barbarei. Das Zusammenleben auf engstem Raum, das ununterbrochene Eingesperrtsein, die ständige Angst vor Entdeckung stellt für alle eine große psychische Belastung dar, die Anne Frank in ihren Aufzeichnungen eindrucksvoll schildert. Als selbstkritischer Backfisch wird sie von inneren Zweifeln gequält, leidet unter der wenig liebevollen Beziehung zu den Eltern, hadert mit ihrer vorlauten Art, die im täglichen Umgang oft zu großen Spannungen führt, – es fällt ihr aber sehr schwer, sich zurückzuhalten. Sie flüchtet sich geradezu in das Schreiben, benutzt das Tagebuch als Ventil für ihren Frust.
Die Besonderheit dieser Prosa liegt in ihrer literarischen Doppelform als spontanes Tagebuch zur Dokumentation des Zeitgeschehens und als feinfühlig überarbeiteter, daraus entstandener Briefroman eines Mädchens in der Adoleszenz. Ohne Zweifel ist das Talent der Autorin beachtlich. Der oft deutlich erkennbare Stilbruch in dem bisher bekannten Tagebuch, entstanden durch die Vermischung jener beiden zeitlich auseinander liegenden und mit unterschiedlichem Ziel entstandenen Versionen, ist dem Vater, nicht ihr anzulasten. «Liebe Kitty» ist dagegen «aus einem Guss», aber leider Fragment geblieben. Eine literarisch interessante Lektüre, die thematisch, in Zeiten von beängstigend anwachsendem Fremdenhass, heute so wichtig ist wie ehedem.
Fazit: lesenswert
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