Ferdinand von Schirach zeichnet gerne Geschichten auf, die ihm von anderen berichtet werden. Dieses Buch mit ausgewählten Texten bietet Lesegenuss und viele gute Nachmittage.
Schirach schildert die Geschichte einer alkoholkranken Witwe, die ihren Mann verdächtigt, ein Exhibitionist zu sein. Als sie ihn bei einer Autofahrt mit ihrer durch ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität geprägten Überzeugung konfrontiert, erschrickt er so sehr, dass er tödlich verunglückt. Vier Tage nach seiner Beerdigung wird der tatsächliche Exhibitionist ermittelt und festgenommen.
Ähnlich bizarr ist die Geschichte, in der Anwalt Schirach in einem Hotel in Marrakesch zufällig einem Mann begegnet, den er vor 16 Jahren verteidigen sollte. Dieser Ex-Mandant, ein angesehener Uhrenfabrikant, führte ein Doppelleben in der Berliner Schwulenszene. Als er von einem Erpresser mit heimlich gemachten Polaroid-Fotos konfrontiert wird, arrangiert er sich zunächst mit ihm. Der Erpresser stirbt jedoch unter mysteriösen Umständen, und der Fall wird von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Der Fabrikant zog sich danach nach Marrakesch zurück.
Eine weitere bemerkenswerte Geschichte, die Schirach erzählt, wird ihm in einer Hotelbar in Tokio offenbart: Dort berichtet ihm eine New Yorker Journalistin von ihrer Affäre mit einem weltberühmten Rockstar. Er schenkte ihr eine wertvolle Uhr, die sie aus Angst vor ihrem Ehemann im Tresor einer Großtante deponierte. Nach deren Tod übernahm ihr Gatte die Verwertung des Nachlasses. Doch seltsamerweise blieb die Uhr verschwunden, bis sie diese am Handgelenk einer jungen Schauspielerin ausmachte, die wiederum Mandantin ihres Mannes war.
Diese und andere Kurzgeschichten fasst Schirach in »Nachmittage« zusammen. Es sind leise Erzählungen, die ihm angeblich aufgedrängt werden, denn er ist meistens müde, möchte schlafen, hört trotzdem zu und schreibt sie dann auf. »Jede unserer Handlungen beruht auf längst getroffenen Entscheidungen,« philosophiert der Autor, »wir entkommen uns nicht, ganz gleich, was wir tun.«
Schirach erzählt auch von seinem unbesiegbaren Vater, der nach der Scheidung von seiner Mutter verfiel, zum Trinker wurde und schließlich elend starb. Der Vater starb am gleichen Tag, an dem seine Mutter Geburtstag hatte, und Schirach konnte künftig nicht mehr schreiben, weil er nicht so werden wollte wie sein Erzeuger. Seine Angst vor dem Scheitern, dem Ungeordneten, dem Verfall und der Haltlosigkeit führte ihn zum Jurastudium und in ein bürgerliches Leben. Erst viel später begann er wieder zu schreiben und fand allmählich seinen wahren Ausdruck.
Es sind die Einschnitte im Leben, die oft kleinen Dinge, die alles verändern und Entgleisungen verursachen können.