Ein hintergründiges Triptychon
Es geht um mehr als um die Geschichte einer Ehe in diesem dreiteiligen Prosawerk, als dessen «Herausgeber» André Gide in persona fungiert, eine Fiktion in der Fiktion also, von ihm kunstvoll und raffiniert zu einem Roman zusammengefügt, der es in sich hat. Wie ein dreiteiliges Altarbild aufgebaut, ergänzen und bedingen sich die Texte diese Trilogie gegenseitig und führen den Leser zum mit Spannung erwarteten, überraschenden Schluss, der mit einer versteckten, nur angedeuteten Pointe endet, die mancher vielleicht sogar übersieht.
Aber der Reihe nach! Eine Ehe bildet den äußeren Rahmen dieses genial konstruierten Plots, in dem erzählt wird, wie sich Mutter und Tochter des autoritären «Oberhauptes» einer gutbürgerlichen Familie emanzipieren und damit zunehmend von ihm entfernen. Robert pocht in der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts spielenden Geschichte unbeirrt auf seine Rechte, den damals gültigen Konventionen gemäß. Er wird unerbittlich demaskiert als egoistischer, seelenloser Opportunist, der nur seinen Vorteil sucht, er ist ganz einfach unehrlich in privaten wie auch in seinen- ziemlich undurchsichtigen – geschäftlichen Belangen.
Eveline, Gattin dieses archetypisch bourgeoisen Mannes des Fin de Siècle, erzählt in ihrem Tagebuch, wie im Verlauf ihrer Ehe ihre anfänglich euphorische Liebe langsam erlosch und allmählich sogar in Hass umschlug. Je älter sie wurde, desto klarer durchschaute sie seine verlogene, selbstgerechte Natur. Sie lehnte sich auf, wehrte sich immer heftiger gegen die unhaltbaren Konventionen der Gesellschaft und entfremdete sich sogar von der katholischen Religion, die ja deren, wie sie erkennt, geradezu einfältiges moralisches Rückgrat bildet.
«Der Geist des Widerspruchs ist immer tadelnswert, aber insbesondere halte ich ihn für tadelnswert bei einer Frau», schreibt Robert in seiner Erwiderung auf das veröffentlichte Tagebuch von Eveline. Alice Schwarzer, Urgestein der feministischen Bewegung, hätte ihre helle Freude an solch einem Macho! Eine kleine Episode, die dessen naiv-religiöse, gleichwohl scheinheilige Gesinnung erhellt: Als der Arzt seiner nach einer Fehlgeburt mit dem Tod ringenden Frau dem für die «Letzte Ölung» herbeigerufenen Abbé den Zutritt zum Krankenzimmer verwehrt, um die sich abzeichnende Besserung durch dessen bedrohliches Erscheinen nicht zu gefährden, die Hoffnung auf Genesung also nicht im Keime zu ersticken, da ist für Robert die «Rettung der Seele» durch die Sterbesakramente wichtiger als die Gefährdung des Lebens von Eveline, – der Kirchenmann darf eintreten.
Die gemeinsame Tochter Genoveva erzählt im dritten Teil des Romans ihre Entwicklung zu einer jungen Frau, die deutlich radikaler als ihre Mutter sich gegen die offensichtlichen Lügen der bürgerlichen Gesellschaft, gegen deren allenthalben spürbare Doppelmoral wehrt. Ihre Ablehnung alles Konventionellen geht so weit, dass sie sich ein Kind wünscht, ohne jedoch heiraten zu wollen, ein Sakrileg in jenen Zeiten, und dementsprechend sind denn auch die Reaktionen derer, zu denen sie davon spricht. André Gide, der 1947 mit dem Nobelpreis geehrt wurde, schreibt all das in einer kristallklaren, wunderbar schnörkellosen Sprache, wobei er vieles nur andeutet, durchscheinen lässt, dem mitdenkenden Leser dadurch also reichlich Freiraum gibt für eigene Deutungen der psychologisch komplexen Geschichte. Wie gut, dass wir in einer anderen Zeit leben, wird sich so mancher Leser da wohl denken!
Fazit: lesenswert
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