Ein wenig sterben

Flammer liegt nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus und kann sich an nichts mehr erinnern. Sein Gehirn ist mangels Sauerstoffzufuhr irreparabel geschädigt. Georg, ein Jugendfreund, wird von Flammers Vater alarmiert. Schritt für Schritt taucht er darauf in die Welt seines Kumpels ein, um dessen Handeln zu verstehen. Dabei prallen zwei gegensätzliche Lebensentwürfe aufeinander.

Georg ist als selbständiger Versicherungsmakler erfolgreich. Mühsam hat er sich sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erkämpft und möchte niemandem Rechenschaft ablegen. Er pflegt einen gehobenen Lebensstil und nimmt gern mal eine Nase Koks. Studienabbrecher Flammer hingegen hielt sich derweil mit miesen Jobs über Wasser. »Alles ist eine große Gleichgültigkeit«, lautete sein Credo. »Aus dieser Kälte gibt es kein Entkommen«.

Der Freund besucht den Platz im Wald, wo Flammer versucht hatte, sich aufzuknüpfen. Er inspiziert Flammers muffige Wohnhöhle und fragt sich, warum er nicht einfach vom Balkon gesprungen sei oder sich in den eigenen vier Wänden seiner Zelle aufgehängt habe.

Georg spürt die Spuren seines Jugendfreundes auf und reflektiert dabei sein eigenes Leben, das von Flucht vor Einsamkeit und daraus resultierender Arbeitswut geprägt war. Er lebte stets so, als bestünde die einzig erträgliche Methode mit dem Leben fertig zu werden, es permanent abzuwehren und sich so gut wie möglich gegen alle Risiken abzusichern. Georg spürt aber auch, dass das Leben, das Flammer geführt hat, stets ein Teil von ihm selbst war, und zwar jener Teil, den er bewusst verdrängte. Stück für Stück beginnt er sich zu häuten und streift die Vergangenheit ab.

Stefan Kalbers entwickelt mit seiner Erzählung ums mehr oder weniger freiwillige Sterben einen spannenden Dialog zwischen einem, der sich nicht mehr erinnern kann und einem, der alles verdrängt hat und sich langsam wieder besinnt. Dabei versteht er es, den Leser in die Gedankenwelt seines Protagonisten zu führen und die dunklen Seiten der eigenen Existenz zu belichten. Nun ist der Text alles andere als eine trocken-philosophische Abhandlung. Im Gegenteil. Kalbers schafft es, dem Stoff eine unerwartet spannende Wendung zu geben, die schrittweise den Grund für Flammers Unglück erhellt.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Pornostern

PornosternNamenlos jobbt ohne Erfolg und Anspruch in einer Versicherungsagentur und fristet ein eher erbärmliches Junggesellendasein. Lediglich Ex-Freundin Andrea dringt gelegentlich telefonisch zu ihm durch und erkundigt sich nach seinem Zustand. Ansonsten ist sein einziger Gesprächspartner ein kleiner braungrüner Kaktus, der aus einem Müllhaufen stammt. Diesen stacheligen Mitbewohner tauft er »Rod«, weil dies auf einem Etikett an dessen Unterseite steht.

Seine Zeit verbringt der Ich-Erzähler am liebsten vor dem Fernseher oder in seiner Stammkneipe »Peaches«. Dort verpasst er sich die tägliche Dröhnung. Eines eintönigen Tages lernt er einen Goldkettchenträger kennen, der ihm wie eine Mischung aus Zuhälter und Ramschkönig vorkommt. Der neue Bekannte entpuppt sich als Betreiber eines Pornolabels und bietet ihm einen Job an. Nach einem kurzen Disput zwischen seiner ständigen Trägheit und einer beklemmenden Ebbe des Kontostandes nimmt er das Angebot an und tritt seinen Dienst als Deckhengst des Filmchenmachers an. Künftig darf er willige Novizinnen vor der Kamera vögeln und wird dafür sogar noch gut bezahlt.

Skrupel sind ihm fremd, und über Geschmack macht er sich keine Gedanken. Besonderen Genuss bietet ihm lediglich ein Wiedersehen mit einer Beraterin einer Arbeitsvermittlung, der er nach Vollzug ins Gesicht spritzen und sagen darf, er habe jetzt den seiner Qualifikation entsprechenden Job gefunden.

In seiner neuen Tätigkeit geht er voll auf und findet dabei sogar zu einer eigenen Identität. Als Hommage an seinen Kaktus wählt er den Künstlernamen Rod Reptile. Regelmäßige Nasen Koks, die ihm seine neuen Arbeitsgeber versorgen, tragen dazu bei, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Sein Geld trägt er weiterhin in seine Stammkneipe, in der er eines schönen Tages sogar seine Traumfrau kennen lernt. Mit der knackigen Jasmin ist er bald fest zusammen und genießt die Zweisamkeit.

Da er ahnt, dass seine neue Liebe wenig erbaut auf seine Erwerbstätigkeit reagieren würde, täuscht er sie mit Lügengeschichten. Wenn das Telefon klingelt, steht er weiterhin stets zur Verfügung, um neue Damen, wie die 24jährige Fitnesstrainerin Claudia, die »neue Herausforderungen« sucht und sich als Filmsternchen bewirbt, einem gründlichen Leistungstest zu unterziehen. So kommt es, wie es kommen muss: eines bösen Tages wirft Jasmin ihrem geliebten Rod eine DVD mit dem prosaischen Titel »Ehehuren«, in der er als Hauptdarsteller wirkt, vor die Füße und verlässt ihn tief enttäuscht.

Rod Reptile ist wieder mutterseelenallein und steigt noch tiefer ins Pornobusiness ein. Er träumt von einer Solokarriere mit professionellen Darstellerinnen und entwickelt sich allzeit bereit, immer bereit, zum Pornostern. Koks, Aufputschmittel, Alkohol und Potenzpillen helfen ihm, in jeder Situation als Mann zu bestehen. Dabei bricht er charakterlich immer tiefer ein und führt bald nur noch ein Leben auf Speed. Seine Auftraggeber lassen ihn fallen. Als eines schlimmen Tages zu allem Übel auch noch sein einziger Freund, der Kaktus Rod, wegen mangelnder Aufmerksamkeit sein Leben aushaucht, will er endgültig alles ändern. Er springt in einen Zug und folgt Jasmin. Ein Happy-End bleibt aus.

Strasser baut die Geschichte von Rod Reptile geschickt und nachvollziehbar auf. Im Dialog mit dem Kaktus bedient der 34-jährige Düsseldorfer Autor sich eines Kunstmittels, das literarische Qualität hat. Er erzählt seine Story in lakonisch-distanziertem Stil und verzichtet auf die klebrige Ausschmückung eines Soft-Pornos. Damit enttäuscht er vermutlich die Hoffnungen der Voyeure, die zu dem Buch greifen, weil sie hinter dem Titel eine saftige Sexstory wittern. »Pornostern« lüftet hingegen einen Zipfel des Vorhangs der Sexindustrie und liest sich als eigenwilliger und durchaus nachvollziehbarer Bericht.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Ich bin schizophren und es geht mir allen gut

Bernemann wird alt. Inzwischen hat er die 30 deutlich überschritten und ist immer noch auf der Suche nach sich selbst. Als Autor möchte er weder schubladisierbar noch schubladesk sein und behauptet, seine Literatur führe eine Art Angriffskrieg. Davon ist in seiner nunmehr vierten Buchveröffentlichung leider wenig zu spüren.

Ubooks hat seinen bisher einzigen Bestseller-Autor dazu verdammt, Neues auf den Markt zu werfen. So greift der geforderte Autor in die Ablage und zaubert einige halbgare Texte hervor, um sein Publikum zu beglücken. Er nennt sie »persönlich«. Alle, die seine Texte kennen, meint Bernemann, hielten ihn für einen Depressiven, manisch Fingernägel kauenden und ewig beunruhigten Alptraumtänzer, einen weit draußen Stehenden, der so far out of space zu sein scheint, dass er »nur an Weltraumbahnhöfen verweltreist«. Tatsächlich will er ein »Kopfkrieg-Youth« sein. »Ich bin ein Modeschmuckgeschäft, in dem es lediglich Assoziationsketten gibt«, brüllt er die Alleen entlang, wenn er zwischen Leipzig, Herne und Trier auf die Suche nach dem Leser geht.

Zum Beweis publiziert er einige kurze Geschichten im Genre Fuckrockblutkotzeliteratur. Das Material füllt kein Buch, Bernemann greift zur Technik, die er schon in seinem Erstling »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« anwandte: er schiebt dreißig Seiten Gedichte und Songtexte ein, die er »lyrische Manifeste« nennt. Und tatsächlich: mehr als Assoziationsketten bietet er nicht.

Seiner Zielgruppe, der »schwarzen« Subkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung, mag das vielleicht genügen. Mit Hilfe eines Lektors, der sein Potential fordert, könnte aus ihm jedoch deutlich mehr werden. Geschichten wie »Der Campingstuhl« jedenfalls zeigen das literarische Vermögen des Autors: ein 18jähriges Mädchen zieht mit einem frisch erworbenen Sitzmöbel auf ein wildes Rockfestival und definiert sich darüber. Auf diesem Klappstuhl sitzt sie als ultimativ Gerockte und betrachtet das Universum, das sich ihr bald in Form von Bier, Schnaps, Haschisch und fröhlichen Freiern vorstellt und findet sich dabei maximal cool und extravagant.

Die eindrucksvolle Beschreibung der Fete rund um das Klappmöbel beweist auch, dass sich im Selbstverständnis junger Leute und ihrer Erlebniswelt in den zurück liegenden 30 Jahren wenig geändert hat und auch die Subkultur immer noch in ihrem Wesen beständig ist. Insofern ist die Lektüre dieses literarischen Kleinods auch für die Altersgruppe 30+ durchaus geeignet. Ob eine Story allerdings genügt, das Buch zu kaufen, mag jeder selbst entscheiden.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Ich hab die Unschuld kotzen sehen

Das was mal Unschuld war, meint Dirk Bernemann in seinem Erstlingswerk, nimmt nun Drogen, tötet aus Lust, ist viel zu frei erzogen, um klar und geordnet zu denken, aber entwickelt sich scheinbar natürlich, gar übernatürlich. Und es ist vor allem unaufhaltsam und nennt sich irgendwann, also bald, gar dreist: Die neu definierte Unschuld. Weiterlesen


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Und wir scheitern immer schöner

In Fortsetzung seines Erstlings »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« geht Bernemann auch in seinem zweiten Werk hart zur Sache. Von wem oder was auch immer getrieben sucht er nach einem bescheidenen Seelenasyl, um sich niederzulassen. Diesen Platz suchen auch seine Figuren, und sie glauben wohl, den Seelenfrieden vor allem in der körperlichen Vereinigung finden zu können. Weiterlesen


Genre: Pop-Literatur, Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf