Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Die Poesie der irrsinnigen Liebe
Daniela Krien erzählt in ihrem Romandebüt von einer Liebesgewalt zur Wendezeit.
Wir schreiben das Jahr 1990, ein heißer Sommer irgendwo im Osten. Die DDR ist Vergangenheit, die Vereinigung steht kurz bevor. Die Ich-Erzählerin Maria ist sechzehn und wohnt mit Johannes auf dem Bauernhof seiner Eltern, dem Brendel-Hof. Sie schwänzt die Schule und verkriecht sich lieber mit den „Brüdern Karamasow“ in ihr Spinnenzimmer. Gleichzeitig möchte sie von Johannes‘ Familie angenommen werden, schaut ihnen zunächst dabei zu, wie sie Vieh, Haus und Hof bewirtschaften, Gemüse anbauen, in der Küche schaffen und bringt sich zunehmend helfend im Hofalltag ein.

Auf dem benachbarten Hof lebt der vierzigjährige Henner allein. Ein komischer Kauz, den die Leute aus dem Dorf misstrauisch beargwöhnen, weil er trinkt, manchmal in die Stadt fährt und Bücher liest. Die unbeschwerte Landidylle ändert sich schlagartig, als Henner und Maria, die sich gegenseitig magisch anziehen, in einem wollüstigen Gewaltakt das erste Mal übereinander herfallen. Während ihr nichtsahnender Freund Johannes die Welt fast nur noch durch den Sucher seiner neuen analogen Kamera sieht und davon träumt, an der Kunstakademie Fotografie zu studieren lebt Maria ihre erotische Obsession zu dem viel älteren Henner mit einer Wucht der Leidenschaft aus, in der Lust und Schmerz nahe beieinander liegen. Immer mehr wird sie von der Macht des schieren Begehrens nach der Liebesgewalt beherrscht, die nur Henner ihr geben kann. „Sein Wollen hatte etwas Tierisches, Unberechenbares, etwas, das mich an Dinge erinnerte, die lange vor meiner Zeit Geschehen sind.“ Da steuern Zwei auf ihr unentrinnbares Schicksal zu, das aufgrund des libidinösen Wahnsinns beider eigentlich nur in der Katastrophe enden kann. Heimlich still und leise wird zudem in Rückblenden mehr und mehr Henners Vergangenheit deutlich, die ihn zu dem gebrochenen Menschen gemacht haben, der er ist. Was die beiden außerdem verbindet, ist ihre Liebe zur Literatur, die in ihrer intellektuellen Haltung jedoch der Körperlichkeit nachgeordnet ist.

Die heimlichen Treffen mit Henner wechseln sich ab mit Szenen, die poetisch einen Mikrokosmos des Landlebens im Osten ausbreiten. Die Beschreibung des Dorfes und der Höfe, der Räume darin, sowie des Mobiliars, dem alten Küchenofen, dem großen Esstisch und dem wuchtigen Küchenbuffet atmen die Nostalgie einer stehengebliebenen Zeit. Das ursprüngliche Kochen auf dem Hof, das Maria sich selbst mehr und mehr aneignet und detailliert beschreibt, sowie ausgedehnte Szenen der gemeinsamen Mahlzeiten bis zu Momentaufnahmen der Bewirtschaftung des Brendel-Hofs spiegeln dabei den Rhythmus des Landlebens im Osten, das auf eine wunderbare Art und Weise antiquiert wirkt, so dass man sich als Leser fragt, ob die Figuren des Romans sich eigentlich darüber im Klaren sind, was sie durch die Vereinigung verlieren. Johannes‘ Eltern sind pragmatische, anpackende Menschen, die sich eher Gedanken darüber machen, wie sie ihren Hof umstrukturieren können, um im neu gewonnenen Kapitalismus als biodynamischer Demeterhof zu überleben. Was sie an Freiheit gewinnen wird durch den Knecht des Brendel-Hofs Alfred deutlich, der Maria bespitzelt und eine Atmosphäre diffuser Furcht schafft. Ein Verweis auf die Stasi in der DDR, mit deren Existenz auch Henners Schicksal eng zusammenhängt.

Sprachlich amorph und in einer auf das Wesentlich reduzierten Sprache, wird die antiquierte bäuerliche Welt zum Greifen nah spürbar, die Gerüche erlebbar und die Landschaft mit Dörfern, Höfen, Maisfeldern, Weiden und Wäldern vor dem inneren Auge des Lesers sichtbar. Maria wird meist distanziert in der dritten Person von den anderen Familienmitgliedern angesprochen. Die Zusammenkünfte der beiden Liebenden werden nie explizit geschildert, sondern behutsam und zart angedeutet. Die Triebhaftigkeit ihrer Wollust kippt deshalb nie ins obszön-vulgäre sondern bleibt auf einer Ebene poetischer Sanftheit, die erotische Obsession wirkt so sinnlich, dass einem dagegen Johannes in seiner langweiligen Sexualität leid tut.

Das tragische Ende der Liaison begründet Krien im Gespräch: „Die Obsession ihrer Leidenschaft sollte und konnte nicht ins Alltägliche übergehen. Sie treffen sich auf eine absolute, eine kräftezehrende und auch zerstörerische Weise, wie sie höchstens einmal im Leben vorkommt und wie kein Mensch sie über längere Zeit aushalten würde.“ In dem Moment, in dem Maria dazu bereit ist, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen und dauerhaft mit Henner zu leben, erkennt der genau dieses Dilemma und handelt konsequent bis zum bitteren Ende..

Die 1975 geborene Daniela Krien legt mit „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ein fulminantes Romandebüt vor, dessen Thema der amour fou durch ihre kraftvolle und zärtliche Sprache für den Leser sinnlich erlebbar wird, der Mikrokosmos des Landlebens vibrierend spürbar. An einer Stelle resümiert Maria die Zeit mit Henner: „Noch nie habe ich so wenig gebraucht und so sehr mir selbst genügt wie an den Tagen mit ihm. Essen, schlafen, lieben, lesen, arbeiten. Mehr ist es nicht. Und es ist doch alles.“
Zum Lesen wünscht man ihr viele weitere Romane von Daniela Krien.


Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

DanielaKrienSommer 1990 in der DDR.Der letzte Sommer in einem Land, welches bald keines mehr sein wird. Maria wird bald siebzehn. Sie wohnt mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern nahe der deutsch-deutschen Grenze, die bald keine mehr sein wird. Maria ist ein zartes verträumtes Mädchen. Zwar beteiligt sie sich tatkräftig an der Hofarbeit, verweigert jedoch die Schule. Ihr Liebstes sind zu dieser Zeit die Gebrüder Karamasov, deren Fragen nach Schuld und Sühne, Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung.

Der Brendel-Hof, auf dem Maria lebt, ist neben dem Henner-Hof der größte des Ortes. Beim Henner ist alles noch wie vor dem Krieg, der eigenbrödlerische Mann lebt dort alleine. Sein einsames Leben und seine harsche Art erregen Argwohn im Dorf. Dass sein eigenwilliges Charisma auf Frauen attraktiv wirkt, macht es nicht gerade einfacher. Die junge Maria begegnet Henner eines Tages zufällig, eine einzige Berührung reicht aus, damit eine ebenso unausweichliche wie unmögliche Liebe beginnt. Maria “fällt in einen tiefen Rausch, nichts verwehrt sie diesem Mann.” Ihre Liebe grenzt bisweilen an Hörigkeit, schon nach kurzer Zeit sagt sie den einen Satz zu ihm, den sie – das weiß sie jetzt schon – in ihrem Leben nur einmal sagen wird “mach mit mir, was Du willst”. Und das tut er dann auch. “Sein Wollen hatte etwas Tierisches, Unberechenbares, etwas , das mich an Dinge erinnerte, die lang vor meiner Zeit geschehen sind, die ich nicht wissen kann und dennoch zu kennen glaube, als wäre mein Gedächtnis nur Teil eines größeren.” Doch Henner will eher ihr Herz als ihren Stolz und so wird Maria an dieser Beziehung wachsen und nicht zerbrechen. Den ganzen Sommer leben sie ihre Liebe heimlich, atmen “den scharfen Geruch der Lüge”. Auch wenn Maria Johannes und dessen Familie sowohl mit Respekt als auch mit Zuneigung begegnet, sind sie nicht in der Lage, voneinander zu lassen und treiben die Lüge weiter, als sie je geglaubt haben, eine Lüge treiben zu können. Das Ende sehen sie dennoch kommen. Das Ende des Sommers, das Ende der DDR, das Ende des Lebens, das sie kannten, das Ende ihrer Liebe.

In ihrem Roman-Debüt läßt Daniela Krien ihre Ich-Erzählerin Maria mit der verträumten Sprache einer 17-jährigen von obsessiven Leidenschaften und historischen Zeitenwenden erzählen. Die Welt, von der sie berichtet, ist heute eine vergangene. Durch die besondere Sprache des Romans ermöglicht sie es dem Leser, mitzuleiden und mitzuerleben. Alle Charaktere, von der jungen Maria bis zur alten Bäuerin erscheinen ihm echt und unverfälscht. Man kann Marias Tun gutheißen, muss es aber nicht. Durch ihre ehrlichen Berichte über zerstörte Kindheitsträume und Zwänge in der Pionierrepublik versteht man sie als Leser jederzeit. Der Autorin gelingt das schwierige Kunststück, eine obsessive Sinnlichkeit so zu vermitteln, dass man sie als Leser fast körperlich spüren kann. Von Anfang an versteht man die magische Anziehungskraft des unpassenden Mannes und Marias leidenschaftliche Unterwerfung. Die Familie, bei der Maria lebt, lernen wir als Menschen mit Ecken und Kanten kennen und wertschätzen. Die Geschichte dieser Familie umspannt die schwierige Liebesgeschichte wie ein schützender Rahmen und bringt dem Leser lebendig die Zeit und die Gedankenwelt der DDR-Bürger in diesem Sommer des Umbruchs näher. Fast schon nostalgisch liest man über die Pläne und Hoffnungen der Menschen, auch wenn die Bauern damals schon ahnen, was wir heute wissen: “Wir können nicht holterdipolter in Monaten das schaffen, was die drüben in Jahrzehnten entwickelt haben.” Siegfried, das tatkräftige Familienoberhaupt will sich an den im Westen der Neunziger so erfolgreichen Demeterhöfe orientieren, allerdings “ohne den anthroposopischen Überbau”, das ist ihnen zu verschroben.

Dieser Roman lebt nicht von Spannung oder großer Romantik, das wirklich Besondere an ihm ist neben der Achtsamkeit, mit der die Autorin Sprache als ein kostbares Gut behandelt, seine Authenzität und Ehrlichkeit. Denn: Auch so kann man ein Buch zur Zeitenwende in Deutschland Ost und West schreiben, auch so kann man das Anliegen, Erinnerungen an einen zerbrochenen Staat, seine Menschen und sein Lebensgefühl zu bewahren, vermitteln.

Am Ende des Sommers ist alles anders. Dem Höhenflug der Leidenschaft folgt tiefster Kummer, auch dieser elementar und vorweggenommen. Maria geht mit Johannes weg vom Brendelhof, die Zukunft ist offen. Aber auch verheißungsvoll? Trost geben ihr die Brüder Karamasov, die Worte Alexejs und wie er sagte “irgendwann würden wir alle auferstehen und uns wiedersehen und alles erzählen. Wirklich alles.” Am Ende des Buches ist auch für den Leser einiges anders. Er betrachtet die Welt, von der er gelesen hat, neu und er hofft, dass Daniela Krien ihm, dem Leser noch einiges zu erzählen hat.
Wenn auch wohl niemals alles.

Die Leipzigerin Daniela Krien, studierte Kulturwissenschaftlerin, arbeitete als Drehbuchautorin und Cutterin. “Irgendwann werden wir uns alles erzählen” ist ihr erster Roman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München