Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Auch wenn der Originaltext schon vor einigen Jahren erschienen ist, ist dieses Buch aktueller denn je. Die erstmals bei Suhrkamp 2023 erschienene Ausgabe gliedert sich in drei Teile von denen einer besser ist als der andere. Denn die israelische Soziologin versteht ihr Handwerk. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Anneliese-Meier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und den EMET-Preis für Sozialwissenschaften. Ein Manifest der Postmoderne, das Buch des beginnenden 21. Jahrhunderts!
Ein Bruch mit der Tradition der Liebe
Für wen “emotionaler Kapitalismus” bisher eine contradictio in eo ipso gewesen ist, der wird hier eines besseren belehrt. Denn gerade die Emotionen sind zum Startkapital eines neuen kapitalistischen Akkumulationsmodells geworden, mit dem sich nicht nur start ups wie Datingseiten finanzieren lassen. Die neue Technologie des Internets versteht sich einerseits zwar als eine Technologie der Entkörperlichung und so begegnen sich in diversen Internetforen “entkörpertlichte wahre Selbst“, aber in Wahrheit entscheidet dann doch der Körper. Das Internet mache den Menschen zu einer “ausgestellten Ware mit bewußten Manipulationen des Körpers, der eigenen Sprechmuster, des Benehmens und des Kleidungsstils“. Nichts wird dem Zufall – dem eigentlichen Geburtshelfer der romantischen Liebe – überlassen: “Der Prozess der Selbstbeschreibung bedient sich kultureller Skripte der wünschenswerten Persönlichkeit.”
Kosten-Nutzen-Rechnung der Liebe
Die Folgen seien ironischerweise “Uniformität, Standardisierung und Verdinglichung, wie Illouz schreibt. Allerdings Verdinglichung im Nicht-Marxschen Sinne, denn es behandelt den abstrakten Begriff als wäre er die reale Sache. Romantische Begegnungen werden durch das Internet in die konsumistische Logik des Kapitalismus integriert, das Selbst wird zu einem “verpackten Produkt, das mit anderen auf dem offenen Markt konkurriere, der nur durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird”. Aus Romantik wird Routinebildung und Administration, Kosten-Nutzen-Rechnung und Zeitökonomie. Manche Dater und Liebessuchende legen sogar Ordner nach bestimmten Kategorien an, so überwältigend und beliebig ist der Response.
Das Internet: “Glamour of Misery”
Während die traditionelle Liebe von einer Exklusivität aufgrund von Knappheit maßgeblich war und der Zufall eine maßgebliche Rolle spielte, basiere die Partnersuche im Internet “auf einer Ökonomie der Fülle, der endlosen Wahlfreiheit, der Effizienz, der Rationalisierung, der selektiven Auswahl und der auf Standardisierung basierenden Prinzipien des Massenkonsums”. Freilich ist auch in der Realität Liebe von Illusion und Idealisierung geprägt, aber nirgends tritt es so offensichtlich zu Tage, als wenn zwei Chatpartner sich das erste Mal begegnen: Enttäuschung, ein Hilfsbegriff. Dass die moderne Psychologie wesentlich dazu beigetragen hat, dass Privatheit, Emotion und Intimität in einer Arena der Öffentlichkeit zur Schau getragen werden ist zu konstatieren. Nicht zuletzt Oprah Winfrey, ein Buch von Illouz über Oprah trägt den entlarvenden Titel “Glamour of Misery” und tauchte tief ein in die Welt des Showbiz und wie Psychologie und Konsumkultur zu einem perfekten Zusammenspiel aufgeigen können.
Das therapeutische Narrativ des Leidens
Das Narrativ der Krankheit, das therapeutische Narrativ oder auch das Opfernarrativ trugen wesentlich zu Umsatzboosts für Pharmaindustrie und klinische Psychologen bei. “Pharmaunternehmen haben ein großes Interesse an der Ausweitung psychischer Pathologen, die mit Psychopharmaka behandelt werden müssen”, schreibt Illouz. Auch Versicherungsgesellschaften profitieren von der Ware “Gesundheit” und deren monetärer Akkumulation. Das therapeutische Narrativ produziere geradezu vielfältige Formen des Leidens, wie schon Foucault wusste und um mit dem Anthropologen Shweder zu sprechen, mitverursache die kausale Ontologie des Leidens das von ihr erklärte Leiden geradezu. “Sie verursachen ironischerweise viel von dem Leiden, das zu lindern sie vorgeben”, so Illouz. We are all a happy family.
Eva Illouz
Gefühle in Zeiten des Kapitalismus.
Adorno-Vorlesungen 2004.
Aus dem Englischen von Martin Hartmann
2023, Broschur, 170 Seiten
ISBN: 978-3-518-30023-7
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2423
Suhrkamp Verlag, 1. Auflage
16,00 € (D), 16,50 € (A), 23,50 Fr. (CH)