Ohne Abgang
Der zweite Roman des aus Bosnien-Herzegowina stammenden jungen Autors Saša Stanišić rückt ein fiktives Dorf in der Uckermark ins Rampenlicht. Dessen Bewohner feiern, der Titel «Vor dem Fest» deutet es schon an, alljährlich das traditionelle Annenfest, ohne dass jemand sagen könnte, aus welchem konkreten Anlass es eigentlich begangen wird. Es mag an der Herkunft des Autors liegen, dass in seiner sich um ein trostloses Kaff im strukturschwachen Brandenburg rankenden Geschichte, wenig mehr als zwanzig Jahre nach der Wende, die politische Vergangenheit nicht im Blickpunkt steht. Er erzählt, anders als deutsche Autoren das zu tun pflegen, weitgehend losgelöst davon, und wie er das macht, mit welchen literarischen Mitteln und in welcher Fülle an originellen Einfällen, das ist wahrlich nicht alltäglich. Sein Augenmerk gilt den individuellen Befindlichkeiten der Einwohner dieses sich langsam entvölkernden Dorfes, die er am Beispiel seiner durchaus skurrilen Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, ergänzt um historische Ereignisse aus dem sorgsam behüteten Heimatarchiv der kleinen Gemeinde.
Der in fünf Teile gegliederte Roman wird dreisträngig erzählt, er behandelt in seinem Hauptstrang die vierundzwanzig Stunden vor und während des Annenfestes 2013. Erzählt wird aus einer kollektiven Wir-Perspektive, die das ganze Dorf einschließt, in der jeder Protagonist Teil des dorfgeschichtlichen Chores ist und zum Canon der Hoffnungslosen seinen individuellen Beitrag leistet. Da ist zum Beispiel der ehemalige Soldat, der sich als Rentner etwas hinzuverdienen muss und als Protestwähler zur den Neoliberalen tendiert. Oder der Briefträger, der wie selbstverständlich die Post der gesamten Dorfgemeinschaft mitliest, auch nach der Wende, und sich hingebungsvoll der Hühnerzucht verschrieben hat. Es gibt die neunzigjährige Malerin, die Szenen aus dem Dorfleben in Ölbildern festhält, als Beispiel sei das Bild «Der Neonazi schläft» genannt, ‑ er sei übrigens der einzige politisch Verwirrte im Dorf, erfahren wir. Oder die depressive Frau Schwermuth (sic), die ebenso argwöhnisch wie erfolgreich über das beachtenswerte Dorfarchiv wacht. Und der uralte Fährmann, in dessen Logbuch über die Jahrzehnte hinweg nur sieben Einträge von Passagieren verzeichnet sind, einer davon ist von Angela Merkel. Schließlich tauchen unvermutet zwei fremde junge Männer auf, die in Reimen sprechen, ein durchaus verblüffendes Stilmittel des kreativen Autors. Der im Übrigen den Leser durch seinen subtilen Humor und seine überbordende Erzähllust für sich einzunehmen versteht mit seinem unkonventionellen Roman.
Aufgebaut ist diese vielschichtige Erzählung wie ein Reigen aus vielen kurzen, zunächst voneinander unabhängigen Abschnitten, die erst allmählich innere Bezüge erkennen lassen und sich dann teilweise ergänzen. Parallel zum eigentlichen Erzählstrang wird von einer Fähe, deren Bild übrigens auch den Buchumschlag ziert, und ihrem rastlosen Bemühen erzählt, beim Hühnerzüchter Eier zu stehlen, und diese Tiergeschichte ist ebenfalls häppchenweise in viele kleine Abschnitte über den gesamten Text verteilt und lose mit der Geschichte der Menschen verwoben. Gleiches gilt für den historischen Strang, der aus diversen anekdotenhaft zitierten Auszügen aus der Dorfchronik besteht, ohne erkennbare Beziehungen zueinander und mit zum Teil drastischen Berichten, zurückreichend bis ins 16ten Jahrhundert, die das Geschehen stilecht in nicht immer einfach zu lesender, dem Altdeutschen nachempfundener Sprache anreichern. Verbindungen zur eigentlichen Handlung sind nicht auszumachen, es wird vielmehr ein historischer Hintergrund beleuchtet, der das aktuelle Geschehen eindrucksvoll relativiert, schlechte Zeiten gab es schon immer, soll so dem Leser wohl bedeutet werden.
Ich muss gestehen, dass ich das Buch am Ende etwas irritiert aus der Hand gelegt habe. Aber manchmal stellen sich die Wirkungen eines Textes ja erst später ein, dem Abgang beim Wein vergleichbar, der den Genuss erst perfekt macht als letztes, wichtigstes Kriterium. Genau das fehlt hier aber, wie ich inzwischen weiß, allenfalls einige amüsante Wendungen sowie der flockige Schreibstil des Autors insgesamt bleiben haften, mehr nicht. Ist das Weltliteratur, wie der Klappentext uns suggeriert? Mitnichten, da bin ich mir sicher!
Fazit: lesenswert
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