Unsichtbare Tinte

Vexierspiel der Erinnerung

Der französische Nobelpreisträger Patrick Modiano hat mit seinem neuesten Roman «Unsichtbare Tinte» wieder ein Werk vorgelegt, in dem das Erinnern thematisiert wird. Die Jury in Stockholm hatte ihm 2014 den Preis «Für die Kunst des Erinnerns» verliehen. Der Buchtitel spielt darauf an, dass manche versteckte Botschaft erst durch äußere Einflüsse wieder entschlüsselt und damit ins Bewusstsein zurückgerufen werden kann.

Der zwanzigjährige Jean, Ich-Erzähler und trotz belgischem Pass unverkennbar Alter Ego des Autors, nimmt Anfang der sechziger Jahre einen Job bei einer Pariser Detektei an. «Ich hatte gedacht, diese zeitweilige Arbeit würde mir einen Haufen Material liefern, das mich später einmal inspirieren könnte, falls ich mich der Literatur widmete». Er bekommt zur Einarbeitung den Auftrag, möglichst viel über das Verschwinden einer gewissen Noëlle Lefebvre herauszufinden. Doch seine Recherchen sind wenig ergiebig, es gibt kaum verwertbare Spuren, und von den wenigen passt einfach nichts zusammen. Es gibt zwar einige Orte wie die Tanzbar ‹Dancing de la Marine›, in der sie anscheinend verkehrte, oder ein Lederwaren-Geschäft, in dem sie gearbeitet hat, aber nirgendwo weiß man etwas über ihr plötzliches Verschwinden. Als hartnäckiger Schnüffler stöbert er sogar einen Schauspieler auf, der mit ihr befreundet war, und findet mit dessen Hilfe auch ihre letzte Wohnung, wo er schließlich auf ein Notizbuch von ihr stößt. Aber auch dessen Einträge bringen ihn nicht weiter, ebenso wenig wie das über sie angelegte Dossier, das er später beim Ausscheiden aus der Detektei an sich genommen hat. Auch nach vielen Jahren, er geht längst einer anderen Beschäftigung nach, denkt er immer wieder mal an den ungelösten Fall zurück. Denn eine der damals gesammelten Informationen betrifft ihn ganz persönlich, die Frau stammt aus der Gegend um Annecy, wo auch er herkommt. Damit erweist sich diese Geschichte in Wahrheit als eine Identitätssuche des Erzählers.

«Diese Nachforschungen könnten den Eindruck erwecken, ich hätte ihnen viel Zeit gewidmet – schon über hundert Seiten», heißt es auf Seite 104, «aber das stimmt nicht. Zählt man die Augenblicke zusammen, die ich bisher in einer gewissen Unordnung erwähnt habe, dann kommt ein knapper Tag heraus. Was ist ein Tag in einem Zeitraum von dreißig Jahren?» Das scheinbar simple Handlungsgerüst dieses mehrdeutigen Romans erweist sich zusehends als immer komplexer, aber auch wenn mit den Jahren weitere Puzzelteile hinzu kommen, zu denen auch das rote amerikanische Cabriolet auf dem Einband gehört, widersetzt sich das Rätsel um die schattenhafte Existenz der Frau jeder Klärung. Bis plötzlich auf den letzten vierzig Seiten des schmalen Bändchens ein Orts- und Perspektiv-Wechsel stattfindet. Ein auktorialer Erzähler berichtet nun aus der Perspektive einer Frau, die in Rom eine Fotogalerie betreut. Eines Tages tritt ein Unbekannter bei ihr ein, der als französischer Professor für Geschichte Nachforschungen für eine Studie anstellt. Die wichtigsten Begegnungen, das lernt der Leser am Ende, sind immer die zufälligen!

Was treibt einen Siebzigjährigen an, eine etwa gleichaltrige Frau zu suchen, die vor fast fünfzig Jahren spurlos abgetaucht ist? «Im ziemlich geradlinigen Verlauf meines Lebens war es eine ohne Antwort gebliebene Frage», heißt es im Buch dazu. Leerstellen, erzählerische Sackgassen, trügerische Namen und unzuverlässige Zeugen beherrschen diesen wie mit Zaubertinte geschriebenen, narrativ extrem reduzierten Roman des Erinnerns und Vergessens. Wie immer bei Modiano beherrscht auch hier seine Paris-Nostalgie das Geschehen. Es geht kreuz und quer durch die Straßen der französischen Metropole, von Café zu Café. Und wie immer wird auch das Wetter als stimmungsmäßige Grundierung gekonnt in das Geschehen mit einbezogen. Statt als Vexierspiel der Erinnerungen kann man diesen großartigen Altersroman natürlich auch als eine Reflexion über das Entstehen von Literatur deuten.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

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