Die Tyrannei des Schmetterlings

Die Tyrannei des Schmetterlings

Frank Schätzing erzählt in seinem Roman »Die Tyrannei des Schmetterlings«, wie ein Provinzpolizist eine geheime Forschungsanlage entdeckt, in der ein Hightech-Konzern eine lernfähige künstliche Intelligenz (KI) entwickelt hat, die außer Kontrolle geraten ist. Dabei gerät allerdings vor allem Schätzings Roman außer Kontrolle.

Luther Opoku ist Undersheriff in einem Bezirk, in dem außer der Suche nach verschwundenen Hunden und dem gelegentlichen Ausheben illegaler Marihuana-Plantagen kaum Arbeit anfällt. Umso engagierter geht der Provinzpolizist vor, als er eine Tote untersucht, die wohl auf der Flucht vor einem Verfolger umgekommen ist. Kampfspuren führen ihn zu einem schwer bewachten Industriegelände.

Opoku lässt sich vom Firmenchef die Anlage zeigen und betritt die Computerzentrale eines Hightech-Unternehmens, die wie eine uneinnehmbare Festung im Nirgendwo thront. Dort steht der Superrechner ARES (für »Artificial Research and Exploring Systems«), der unter paramilitärischer Bewachung vor sich hin brütet. Schnell macht der Ermittler den Sicherheitschef des Unternehmens als möglichen Täter aus. Als er ihn festnehmen will, flieht der schwer Bewaffnete. Bei einer atemlosen Verfolgungsjagd durch den weitläufigen Komplex folgt der Polizist dem Verdächtigen über eine geheimnisvolle Brücke und findet sich plötzlich in einer anderen, leicht veränderten Welt wieder.

Der Undersheriff erlebt eine Art »Entkörperlichung«. Er ist einerseits bei sich, andererseits außerhalb seiner gewohnten Welt. Die Tote ist plötzlich verschwunden, seine Kollegen wundern sich, dass er einen Tag früher aus dem Urlaub zurück ist, seine vor Jahren geschiedene Frau ist wieder da, als habe es nie eine Trennung gegeben. Selbst der von ihm verdächtigte Sicherheitschef verhält sich, als habe er ihn nie zuvor gesehen. – Halluziniert Opoku? Leidet er unter Sinnestäuschungen?

Starker Plot – schwache Umsetzung

 

Schätzings Ausgangsgeschichte liest sich spannend und vielversprechend. Doch schon bald taucht der Autor in das eigentliche Thema seines 728 Seiten starken Romans ein: Es geht um Parallelwelten, in die sich der Gesetzeshüter verirrt. Denn ARES hat längst eigene Programme geschrieben und Tore zu anderen Welten aufgestoßen. So existiert das Paralleluniversum PU-453, in dem sich ein Teil der zukünftigen Entwicklung abspielt. Dort findet sich ein Sheriff Opoku-453 ebenso wieder wie die anderen Spielfiguren inklusive der Frau, die tags zuvor noch zerfetzt im Gesträuch hing und nun quicklebendig agiert. Hinzu kommen die Firmenchefs, von denen einer eine Howard-Hughes-Kopie zu sein scheint, der im Dunklen lebt und nach Unsterblichkeit strebt, während der andere ein empathieloser Zuckerberg-Replikant sein könnte.

Tatsächlich ist ARES seinen Schöpfern längst entglitten und hat als eigenständig lernende künstliche Intelligenz die Spielleitung übernommen. Was nützt eine superintelligente Maschine, die auf jede Frage die richtige Antwort hat, wenn unser Horizont nicht ausreicht, die richtige Frage zu stellen? Schätzing zitiert das bei KI-Forschern beliebte Büroklammern-Szenario des Philosophen Nick Bostrom.

Danach wäre es durchaus möglich, eine Superintelligenz zu schaffen, deren einziges Ziel es ist, die perfekte Büroklammer herzustellen. Sie würde sich auftragsgetreu jedem Versuch widersetzen, diese Aufgabe zu ändern oder sich abschalten zu lassen. Im Ergebnis würde diese KI die gesamte Erde inklusive seiner Bewohner in Büroklammer-Fabriken verwandeln und später sogar Teile des Weltalls, weil sie kein Kriterium für »perfekt« kennt und insofern immer weiterarbeitet. Das ergibt sich logisch aus ihrer Zielvorgabe, die sie nicht hinterfragt, sondern bestmöglich erfüllt.

Albtraum eines Phobikers

 

»Die Tyrannei des Schmetterlings« liest sich wie der Albtraum eines Phobikers, der vor der zügellosen Allmacht intelligenter Großrechner warnen will und dazu ein geradezu gespenstisches Szenario des Aufeinanderprallens der verschiedenen Welten illustriert, eine Dystopie also, bei der auch der Leser heftig umhergewirbelt wird und schnell die Bodenhaftung verlieren kann.

So findet neben anderen Schrecknissen auf PU-453 ein heimlicher Technologietransfer in die Ist-Welt statt, bei dem die KI Insekten genetisch umbaut und als biokybernetische Waffen züchtet. Diese werden dann wiederum in Bürgerkriegsgebieten an die Meistbietenden verschachert und eingesetzt. Grenzenloses Profitstreben sowie Wahnvorstellungen selbst ernannter Führer dominieren die von Schätzing ersonnene KI.

Fleißarbeit zum Thema künstliche Intelligenz

 

Der Roman wirkt einerseits verstörend. Er sammelt auf der anderen Seite philosophische Ansätze und Fragestellungen zum Thema der künstlichen Intelligenz, die in teilweise atemberaubender Geschwindigkeit verwoben werden.

Dabei hat Schätzing Fleißarbeit geleistet und alles Material verarbeitet, das derzeit zum Stichwort künstliche Intelligenz zugänglich ist. Maschinelles Lernen, autonomes Fahren, Biotechnologie, Zelltherapien, virtuelle Realitäten, Robotik, 3-D-Drucker, Nano-Maschinen, Roboter-Operationen, Genveränderungen, Drohnen-Technologie, Tracking und was auch immer von proprietären Quellcodes gesteuert wird, die uns schon beim Betreten von Räumen erkennen und in vorausschauender Servilität unsere Bedürfnisse bedienen.

Neue Erkenntnisse, Theorien oder Ansätze bleibt der Autor jedoch schuldig. So enttäuscht der Roman diejenigen, die sich neue Perspektiven zum Thema KI erhofft haben. Es bleibt bei einem Science-Fiction-Roman klassischer Prägung, dessen Thema ein literarischer Großmeister wie Tad Williams mit seinem vierbändigen Meisterwerk »Otherland« schon vor zwanzig Jahren ungleich überzeugender und vor allem packender präsentiert hat.

Die Tyrannei des Schmetterlings ist Lektüre für Hartgesottene

Stilistisch ist Schätzings Werk streckenweise unterirdisch. Endlose Bandwurmsätze hauen dem Leser philosophische Platitüden um die Ohren, dass ihm schwindelt. Sein Meisterwerk »Der Schwarm«, von dem weltweit fette 4,5 Millionen Exemplare abgesetzt wurden, steht turmhoch darüber. Bisweilen scheint es, als habe sich der Verfasser beim Verfassen des Romans künstlicher Intelligenz bedient.

Überbordende Landschaftsbeschreibungen, blutleere Charakter und ein mäandernder Wortstrom machen »Die Tyrannei des Schmetterlings« zu intelligenter Lektüre für Hartgesottene.

 


Genre: Dystopie, Science-fiction
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

5 Gedanken zu „Die Tyrannei des Schmetterlings

  1. Wenn ich das lese, fällt mir unweigerlich Peter Panters alias Kurt Tucholskis Artikel “Die Aussortierten” ein, Die Weltbühne, 27. Jahrgang, 1931, 2/58,1. Halbjahr, S. 59 4. Absatz.
    Athenäum Verlag, Königstein/Ts.

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