Ruth Frobeen erzählt mit Eleganz und Empathie die Geschichte eines Kindes, das eine intensive innere Beziehung zum Cellospiel entwickelt und schließlich zu einer anerkannten Musikerin wird. In dem herausragenden Roman geht es um die Liebe zur Musik, um Freundschaft und tiefe Schatten der Vergangenheit.
Melina Lily Bobinski wird im Alter von vier Jahren von ihrer drogensüchtigen Mutter und ihrem überforderten Vater getrennt und kommt von England nach Hamburg. Dort wächst sie im Haushalt ihres schwulen Onkels auf, dessen Partner Musiker ist. Schon in ihren ersten Lebensjahren tritt das Mädchen somit in die Welt der Streichinstrumente ein, und es dauert nicht lange, dann entdeckt sie das Cello als Instrument, das sie in Bann schlägt. Sie bekommt Unterricht, lernt schnell und atmet bald vollkommen synchron mit den vier Saiten des Streichinstruments. Vielleicht ist sie ein Wunderkind.
Lily unternimmt musikalische Reisen in die Welt der Kammermusik, findet zur Romantik und entdeckt Wege zu eigenen Melodien und Farben, die sie dem Instrument entlockt. Sie besucht eine Orchesterprobe und legt sich auf den Boden, um die Musik durch sich strömen zu lassen: In ihr wispert, rauscht, braust, gluckst und brummt es. Die Klänge dehnen sich in ihr aus, rollen hin und her und strömen in jede Faser ihres Körpers, wo sie sie kitzeln, schildert die Autorin das Empfinden des kleinen Mädchens, und es wirkt fast autobiografisch, wie intensiv Ruth Frobeen den inneren Zugang zur Musik beschreibt. Dabei ist ihre Erzählung fiktiv, versichert die Autorin auf Nachfrage. Zugute kam ihr beim Verfassen des Romans lediglich, dass sie selbst früh Zugang zu den Streichhölzern fand und mit einem Geigenbauer verheiratet ist.
Die Protagonistin erweist sich im schulischen Alltag als Überfliegerin und überspringt mehrere Klassen. Kenntnisse der englischen Sprache helfen ihr dabei. Sie lebt allein für die Musik und ihr Cello. Auf einem Nachwuchswettbewerb, den sie gewinnt, lernt sie eine alte Dame kennen, die ein Cellokonzert geschrieben hat, das Lily aufführen soll. Dabei geht es um Kinder, die aus Nazi-Deutschland nach England verschickt wurden, um zu überleben. Die Komponistin selbst hatte nach dem Tod ihres Mannes ihre Tochter nach England geschickt, jedoch keinen Kontakt mehr zu ihr. Diese geheimnisvolle Förderin gibt der kleinen Lily täglich Klavierstunden und betreut sie liebevoll. Erst im letzten Hauch des Romans erfährt der Leser, welches geheimnisvolles Schicksal die beiden verbindet.
Lily verweigert sich den kommerziellen Seiten des Musikgeschäfts. Sie schließt eine intensive Freundschaft mit einer jungen Pianistin namens Theda. Die beiden musizieren gemeinsam. Sie lernt einen jungen Mann kennen, der ein Beerdigungsinstitut geerbt hat und eine besonders Faible für stimmungsvolle Beisetzungsinszenierungen entwickelt. Mit ihm lebt sie eine Weile zusammen, um dann ihren eigenen schmerzensreichen Weg zu gehen. Ein Tötungsdelikt nimmt ihr die Entscheidung ab, wie es mit der Beziehung weitergehen soll. Mittels ihrer Musik findet sie einen Weg durch ein Spalier von Trauer und Schmerz, von Glück und Enttäuschung und damit zu sich selbst.
Weitere Details aus dem Buch zu schildern, würde dem Charakter der Erzählung widersprechen. Autorin Ruth Frobeen hat viele Themen und Aspekte in ihrem Werk verwoben, die der Leser selbst entschlüsseln mag. Sie öffnet überraschende Handlungsstränge und fügt sie auch wieder zusammen. Dazu zählt beispielsweise, dass Lil Bob, wie sich die heranwachsende Lilly nennen wird, gesichtsblind ist, also Menschen nur an Äußerlichkeiten unterscheiden kann. Diese seltene Krankheit wird häufiger bei Hochbegabten beobachtet, möglicherweise ist das ein Grund, warum der Aspekt eingewoben wurde.
Der Roman »Lil Bob« ist etwas ungewöhnlich Filigranes, ein Werk, das sich jeder schnellen Beurteilung und Kategorisierung entzieht. Auch dieser Aspekt macht den Text wertvoll für den musisch empfindsamen Leser. Dem Kleinod des Selfpublishing sei eine breite Leserschaft gewünscht, die es aufgrund der schmalen Möglichkeiten des Selbstverlages leider schwer finden wird.
Ruth Frobeen: Lil Bob, Selbstverlag, Hamburg, 2021, ISBN: 9783981940046. www.RuthFrobeen.de