Pageturner par excellence
Überraschend, aber nicht unverdient hat Jean-Paul Dubois für seinen kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Roman «Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise» 2019 den Prix Goncourt erhalten. Es ist die bisher höchste Auszeichnung für ein Werk aus seinem umfangreichen Œuvre, von dem bisher nur sehr wenig auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie bei vielen anderen seiner Bücher herrscht auch in dieser Geschichte ein melancholischer Grundton vor. Ein vom Schicksal gebeutelter Pfarrerssohn, der im Gefängnis sitzt, berichtet als Ich-Erzähler davon, warum er straffällig geworden ist und zu Recht dort hingekommen sei. Dabei zieht der französische Autor gekonnt alle Register für eine ebenso unterhaltsame wie – bis zum versöhnlichen Ende – spannende Erzählung, in der es auch manches zu schmunzeln gibt. Er erzeugt damit einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann, ein Pageturner also ‹par excellence›.
Paul Hansen, der Sohn eines dänischen Pfarrers und einer attraktiven Französin, die in Toulouse ein Programmkino betreibt, erzählt aus seiner Kindheit und von der langsamen Entfremdung seiner Eltern. Die linksorientierte, aufmüpfige Mutter treibt es auf die Spitze, als sie 1975 den Skandalfilm «Deep Throat» zeigt, was ihren Mann vorhersehbar die Stelle kostet, er wird von seiner empörten Kirchengemeinde sofort entlassen. Das Paar trennt sich, er findet in Kanada schließlich eine neue Pfarrstelle. Sein damals zwanzigjähriger Sohn Paul folgt ihm ein Jahr später dorthin und schlägt sich zunächst als handwerklich begabter junger Mann mit allerlei Gelegenheitsjobs durch, ehe er in Montreal die Hausmeisterstelle einer gepflegten Wohnanlage mit 68 Wohnungen übernimmt. Mit großem Engagement kümmert er sich fortan nicht nur um das Gebäude, sondern auch um dessen Bewohner. Als Faktotum mit einer nie ermüdenden Hilfsbereitschaft ist er bei allen Bewohnern äußerst beliebt. Bis sich nach über zwanzig Jahren plötzlich alles ändert.
«Seit einer Woche schneit es», heißt es im ersten Satz. In der ersten Erzählebene des Romans wird aus der viel zu kalten Gefängniszelle berichtet, die sich der zu zwei Jahren Haft verurteilte Paul mit einem hünenhaften Biker von den Hells Angels teilen muss. Sein furchterregender Zellengenosse, dessen Missetat ungeklärt bleibt, erweist sich im weiteren Verlauf aber als Sensibelchen, das vor den Mäusen in der Zelle Angst hat. Im zweiten Handlungsstrang erzählt Paul von seinem Leben, von der weitverzweigten dänischen Familie seines Vaters in Skagen, die seit Generationen vom Fisch lebt, vom Vater selbst, der mit den Jahren den Glauben verliert und spielsüchtig wird, seinen Beruf aber weiterhin ausübt. Er erzählt von seiner Frau, die er als Pilotin eines Flugtaxi-Unternehmens kennen lernt und die ihm, als indianisches Halbblut, die Schönheiten der grandiosen kanadischen Natur nahe bringt. Oder von einem guten Freund, der als Angestellter einer Versicherung nach Schwachstellen in der Vita des Verunglückten suchen muss, damit die fällige Versicherungsprämie für den Wert von dessen Leben möglichst weit heruntergedrückt werden kann. Was er ganz gegen seine innere Überzeugung tun muss, weil er für einen Berufswechsel schon zu alt ist.
Im Auf und Ab der Schicksale seiner zahlreichen Figuren entwickelt der Autor ein elegisches Bild des Lebens und kommt dabei erfreulicherweise ohne Klischees aus. Obwohl es um existentielle Themen geht, ist der Erzählton auffallend locker. Als langjähriger Journalist ist Jean-Paul Dubois ein genauer Beobachter, der sich beim Schreiben, wie er im Interview erklärt hat, immer an realen Figuren orientiere, so auch beim Protagonisten dieser Geschichte. Wobei in dieser comédie humaine mit ihrem programmatischen Titel auch die moralische Keule geschwungen wird, Gut und Böse sich exemplarisch gegenüberstehen. Eine komplexe Thematik, die in diesem tragikomischen Roman auf eindrucksvolle Weise aufgegriffen wird , ganz ohne philosophische Tiefenbohrungen.
Fazit: lesenswert
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