Selbstzerstörerische Liebesblödigkeit
Der soeben erstmals auf Deutsch erschienene Roman «Getäuscht» von Juri Felsen ist unter diesem Synonym von Nikolai Freudenstein im Jahre 1930 in einem Exilverlag in Paris erschienen. Er wurde damals sehr positiv aufgenommen und fand in Vladimir Nabokov einen begeisterten Fürsprecher, man feierte ihn als russisches Pendant zu Marcel Proust. Anschließend geriet dieses Romandebüt aber bald in Vergessenheit, und sein jüdischer Autor wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Nach fast hundert Jahren wurde der Roman nun endlich wiederentdeckt und erstmals auch in die deutsche und englische Sprache übersetzt. Sein Protagonist ist ein von Geldnöten und Selbstzweifeln geplagter, angehender Künstler, das Alter Ego des Autors, der als russischer Exilant in Paris der zwanziger Jahre lebt, damals die Welthauptstadt der modernen Künste.
In Tagebuchform wird hier eine autobiografisch inspirierte Geschichte erzählt, beginnend damit, dass der Brief einer guten Freundin aus Berlin den namenlos bleibenden Ich-Erzähler erreicht. Darin wird er auf den bevorstehenden Besuch ihrer Nichte hingewiesen und gebeten, ihr dabei zu helfen, als Exilantin in Paris Fuß zu fassen. Er kennt sie nicht, hat zwar viel von ihr gehört, aber nur einmal ein Foto von ihr gesehen. Trotzdem beginnt er sofort damit, sie sich als die Frau seiner Träume vorzustellen. «In der langsamen, linkischen Menge der Ankömmlinge erkannte ich, gleich unter den Ersten, Ljolja am Hermelinkragen und blauen Mantel, die mir angekündigt waren, und hätte sie ohnehin erkannt – so hatte Katerina Wiktorowna sie beschrieben und ich sie mir jahrelang vorgestellt: ein ungewöhnlich bleiches, wie überpudertes Gesicht, Augen, puppenähnlich aufgrund ihres porzellanhaften Blautons und ihrer langen, sich schwer senkenden Wimpern, und dazu, nach all dieser quasi künstlichen Unbeweglichkeit, ein überraschend nettes, blinzelndes, ironisches Lächeln». Er lernt in ihr eine schöne, kluge und gesellige Frau Anfang dreißig kennen, die bereits eine langjährige Liaison mit einem angehenden Künstler hinter sich hat und danach dann auch noch eine nach nur fünf Jahren gescheiterte Ehe.
Anders als er jedoch ist sie scheinbar nicht an einer über ihre lockere Beziehung hinausgehende, romantische Liebesbeziehung interessiert. Ihre diesbezüglichen Signale sind aber uneindeutig und werden von ihm zumeist auch noch falsch interpretiert, was seine anfängliche Faszination mit der Zeit in eine regelrechte Besessenheit verwandelt. Prompt jedoch folgt die lebenslustige, recht unkonventionell auftretende Ljolja nach einiger Zeit dem dringenden Wunsch ihres reumütigen Ex-Liebhabers, sie kehrt nach langer Zeit wieder zu ihm zurück und lässt den tragischen Helden verzweifelt in seinem Gefühlchaos allein. In seinem Tagebuch seziert er geradezu minutiös unter dem jeweiligen Datum all diese Vorgänge und Wendungen seiner strikt im Status einer Freundschaft bleibenden Verbindung mit der ebenso charmanten wie klugen Ljolja. Und je mehr die Erfüllung seiner Träume sich als Illusion erweist, seine Hoffnungen unerreichbar werden in dem Wechselbad seiner Gefühle, desto nervöser werden seine Reaktionen und desto dümmlicher auch seine als Notizen im Tagebuch aufgeschriebenen Gedanken.
Flüssig lesbar in einem eleganten Stil geschrieben, zuweilen sogar mit ironischem Unterton, erinnert dieser mit seinen langen Satzkaskaden durchgängig als Bewusstseinsstrom erzählte Plot stark an Proust und Joyce. Anders als bei diesen Autoren ist hier aber die spärliche Handlung novellenartig auf ein knappes Jahr begrenzt. Im kenntnisreichen Nachwort wird dem introvertierten Ich-Erzähler eine «toxische Männlichkeit» attestiert, die sich in «idiosynkratischen» Wortbildern artikuliere. Das zutiefst gekränkte Ego des Protagonisten eskaliert in seinen ewigen Selbstvorwürfen und Grübeleien zu misogyn gefärbtem Unmut, frei nach dem Motto: ‹Die Frauen sind an allem schuld›. Obwohl hier ja nur von selbstzerstörerischer Liebesblödigkeit erzählt wird, – oder hat sich der Rezensent da etwa «getäuscht»?
Fazit: erfreulich
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