Bodentiefe Fenster von Anke Stelling

Sie macht alles richtig, funktioniert immer, ist Mutter, Frau und Journalistin zugleich. Sie will es besser machen. Besser als alle anderen und vor allem besser als ihre Mutter. Die Hauptfigur des Romans Bodentiefe Fenster heißt Sandra, wohnt mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem selbstverwalteten Gemeinschaftshaus und knickt unter der Last des Mutterseins nach und nach ein. „Sei glücklich“, schreit sich Sandra selbst Tag für Tag an, „sei glücklich, zufrieden und froh und vor allem ausgeglichen, ja, ausgeglichen musst du sein, denn deine Kinder brauchen eine glückliche, eine ausgeglichene Mutter.“ Dass derartige Zwangsgedanken auf Dauer nicht nur mürbe, sondern auch zynisch und abgestumpft macht, ist klar. Nur wie – das weiß man noch nicht.

Monologe der Schuld im Hamsterrad des schlechten Gewissens

Schauplatz der Handlung ist Berlin, Prenzlauer Berg. Das Viertel Berlins mit der wohl größten Dichte an Zeit Abonnements, wo Eltern Kinderwagen im Wert eines gebrauchten Kleinwagens kaufen, aber neue Kleidung immer so aussehen muss als wäre sie Secondhand. Nur nicht zu protzig auftreten, leger soll es sein, die Gürteltasche um den Hals, den organischen Schnuller beigelegt oder soll man überhaupt noch einen Schnuller geben? Soll man das noch? Oder macht man sie somit im frühkindlichen Alter zu Materialisten, verspricht ihnen Trost durch einen Gummisauger, wo es eigentlich keinen mehr gibt und das alles, bevor die Kinder Marx lesen und den Kapitalismus verstehen können? Sandras Hamsterrad des schlechten Gewissens dreht und dreht sich, spuckt Vorwürfe, Meinungen und Anschuldigungen aus.

Nur nicht jammern!

„Kann man das alles überhaupt verantworten?“, fragt sich die zweifache Mutter immer wieder. Hätte man es nicht besser bleiben lassen sollen? Darf man seine Kinder morgens in der Kita abgeben und dann einfach sein Leben leben? Und: Wer schützt meine Kinder eigentlich von mir selbst? Die Beklemmung ist beim Lesen deutlich spürbar. Seitenweise erstrecken sich Monologe der Schuld und verharrt die Hauptperson erstarrt im Konjunktiv.

Im Nacken sitzt Sandra ihre bereits verstorbene Mutter, eine Frau der 68-Generation, die mit einer anti-autoritären Erziehung den Weg geebnet hat. Sie waren die Pionierinnen der Selbstverwirklichung und jetzt erdrücken die Mütter sich selbst unter der Last der richtigen Vorschläge und wissen im Strudel von Bio und Genderfluid nicht mehr, wo oben und unten ist.  Denn inmitten dieser Liberalität und Antiautorität gilt vor allem auch eins: Nur nicht jammern. Dankbar sein, Klappe halten, weitermachen. Oder in den umher kreisenden Gedanken Sandras:  „Gut geht es uns. Toll ist es hier! Die Kinder sind gesund, keines ist dabei, das offiziell Sorgen machen würde, eine Kiefern-Gaumen-Spalte hätte oder ein Down-Syndrom. Und selbst wenn – sind die nicht besonders wonnig oder werden berühmte Charakterdarsteller?“

 Ausleuchten der eigenen Unzulänglichkeiten

Der Titel ist verfänglich und geht tief. Bodentiefe Fenster. Offene, weite, lichtdurchflutete Räume bedeuten nämlich auch: keinerlei Privatsphäre. Ein Ausleuchten der eigenen Unzulänglichkeiten, ein blinkendes Neonschild auf alle Fehler, die in diesem Appartement aufscheinen. Und: Massenhaft fettige kleine Kinder-Patschhände, die auf die Scheiben klatschen. Dabei sind sie doch so frei, so offen und liberal – es fehlt ihnen doch an gar nichts. Unvermeidlich drängt sich die Frage auf: Wie frei kann man in der freisten Form der Gesellschaften eigentlich noch sein?

Streckenweise erinnert der Roman an Malina von Ingeborg Bachmann – nur ohne Kinder. Die geschlossene hermetische Gesellschaft, aus der es kein Entrinnen gibt, die Ansprüche, die eigentlich immer nur an sich selbst gestellt werden und an denen die Charaktere schließlich zugrunde gehen. Aus der Monotonie des Alltags scheint es kein Entrinnen zu geben, er läuft einfach immer weiter, bis man strauchelt, fällt und schließlich liegen bleibt. Burnout durch vollständige Selbstaufgabe, die mahnende Stimme der Mutter nebst diversen Nachbarn ergebene eine Polyfonie des Grauens. Am lautesten aber ist die eigene Kritikerin, die Stimme in Sandra selbst, die niemals schweigt und immer kreischt.

Schweigen ist generationsübergreifend geworden

Denn wer alles richtig machen will, macht in äußerster Konsequenz alles falsch. Sandra will das. Sie will alles richtig machen, will emanzipiert und häuslich und entspannt und ehrgeizig sein. Sie will sich stark machen für diese Gesellschaft im Gemeinschaftshaus. Genau deshalb kämpft sie um ihre Sprache und um die Worte. Denn diese sind am Ende alles, was sie hat. Wie das Ich in Malina verschwindet Sandra dadurch aber schlussendlich ganz. Alles Unausgesprochene brodelt hinter ihren Lippen und schafft es nicht heraus, Sandra hüllt sich in Schweigen und verschließt alles hinter einem Lächeln. Ihre Tochter tut es ihr gleich: Schweigen ist generationsübergreifend geworden.

Und am Ende fragt man sich: Was bleibt? Was bleibt, wenn man einfach liegen bleibt? Und wo ist man selbst in dieser  so freien, so liberalen, ach-so-anderen Gesellschaft?


Genre: Gegenwartsliteratur
Illustrated by Verbrecher Verlag

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