Halbschatten

 Der Flug ist das Leben wert

Uwe Timm hat mit seinem Roman «Halbschatten» einer illustren Figur aus der Frühgeschichte der Fliegerei ein Denkmal gesetzt, der jungen Pilotin Marga von Etzdorf. Sie gehörte zu den wenigen berühmten Fliegerinnen wie Hanna Reitsch oder Elly Beinhorn, die sich in der Weimarer Republik als Kunstfliegerinnen und mit diversen Flug-Rekorden einen Namen gemacht hatten. Das kurze Leben der ehrgeizigen Marga von Etzdorf endete, als sie sich mit fünfundzwanzig Jahren nach einer Bruchlandung in Aleppo im Mai 1933 das Leben genommen hat.

Wie der Autor in einer Nachschrift erklärt, hat er sich bei der Geschichte seiner Protagonistin auf deren Buch «Kiek in die Welt» gestützt, in dem sie von ihrem Leben erzählt. Den gleichen Namen trug auch ihr knallgelb lackiertes Flugzeug, eine Junkers A50, mit dem sie 1931 zu ihrem erfolgreichen Rekordflug Berlin-Tokio gestartet ist. Auf dem Rückflug setzte nach dem Start in Bangkok der Motor aus, sie stürzte aus 80 Meter Höhe ab und wurde schwer verletzt, ihre Junkers hatte Totalschaden. Nach ihrer Genesung plante sie mit einer Klemm Kl32 einen erneuten Rekordflug Berlin Kapstadt, wobei sie finanzielle Unterstützung von den Nazis erhielt. Als Gegenleistung musste sie nicht nur eine Maschinenpistole mitnehmen, um ein Exportgeschäft vorzubereiten, sie sollte auch mit einer speziellen Kamera für die deutsche Auslands-Spionage Fotos von strategischen Zielen anfertigen. Dazu kam es aber nicht, denn ihr Flugzeug wurde bei der Landung in Aleppo beschädigt, weil sie versehentlich mit dem Wind gelandet war und über die Piste hinausgeschossen ist. Zwanzig Minuten später erschoss sie sich im Flughafen-Gebäude.

Diese Kernhandlung ist in eine zweite Erzählebene eingebettet, in der berichtet wird, wie ein Schriftsteller auf den Spuren seiner Romanheldin in Berlin den Invaliden-Friedhof besucht. Dort trifft sich der Ich-Erzähler mit einem Stadtführer, der ihm in einer Führung ‹nur für ihn allein› ans Grabmal von Marga von Elzdorf führt. «An diesem Ort» sagt der ‹Graue‹›, wie er fortan im Roman nur noch heißt, «liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben. Jedenfalls die militärische. Scharnhorst liegt hier und andere Generäle, Admiräle, Obristen, Majore, bekannte Jagdflieger, damals die Helden der Luft, Richthofen, Udet, Mölders, und unter all diesen Männern, diesen Militärs, liegt eine Frau». Aber dort liegt eben auch Reinhard Heydrich, den Göring mit der Endlösung der Judenfrage betraut hatte, Leiter der berüchtigten Wannseekonferenz. Und diese Toten mischen sich munter in das Gespräch ein, beginnen aus den Gräbern heraus zu reden. Unter ihnen auch der Diplomat Christian von Dahlem, ein ehemaliger Kampfflieger, der Marga in Tokyo begrüßte und mit dem dort gerade gastierenden Schauspieler Anton Miller bekannt machte. Der hat dann Marga heftig, aber erfolglos umworben. Bei einem ihrer Flüge in Japan musste sie sich notgedrungen ein Privat-Zimmer mit von Dahlem teilen. Eine ganze Nacht lang haben sie sich dann, getrennt durch einen aufgespannten Vorhang, in ungewöhnlicher Freimütigkeit wechselseitig ihre jeweils spektakuläre Lebens-Geschichte erzählt.

Die etwa zwei Stunden dauernde Friedhofs-Geschichte beschwört die Schatten der Vergangenheit in einem vielstimmigen Chor herauf, angereichert mit meist kurzen, durch Anekdoten, Redensarten und Gedankensplitter ergänzte, historische Rückblicke. Abwechselnd berichtet in der Kerngeschichte um die kühne Pilotin diese selbst als Ich-Erzählerin aus ihrem Leben. Mit seiner fragmentarischen Form löst der nicht einfach zu lesende Text viele Assoziationen aus, wobei das die Toten einbeziehende Stimmengewirr nicht nur eine mystische Stimmung erzeugt, sondern auch permanent zum Weiterdenken anregt. Und so bleibt denn auch das Motiv für den Suizid ungeklärt: Scham über das fliegerische Versagen, politische Skrupel, unerwiderte Liebe? «Der Flug ist das Leben wert», steht vieldeutig auf Margas heute noch erhaltenem Grabstein!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Vogelweide

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Reif für die Insel

Als ehemaliger 68er beschreibt Uwe Timm in seinem Roman ein Milieu von saturierten Wohlstandsbürgern, dem damals, wie wir heute wissen allerdings vergeblich, heftige Proteste und Demonstrationen galten, bei denen schließlich sein Freund Benno Ohnesorg erschossen wurde. Vor einem bourgeoisen Hintergrund also entwickelt sich eine Amour fou, und den «Wahlverwandtschaften» vergleichbar lieben sich schließlich zwei Paare «über Kreuz». Mit dem von Goethes Romantitel adaptierten Begriff der Triebkraft einer chemischen Reaktion wird sehr treffend das Zwanghafte bei der Leidenschaft verdeutlicht, die ja nicht selten, so auch hier, im Chaos endet. Eine Ménage-à-quatre nämlich wollen die Protagonisten nicht eingehen.

Erzählt wird in diesem Roman die Geschichte von Christian Eschenbach, einem einst erfolgreichen Software-Unternehmer, der sich nach seinem Konkurs mit Gelegenheitsjobs durchschlägt und auf der unbewohnten Nordseeinsel Scharhörn als Vogelwart lebt. Er erwartet seine ehemalige Geliebte Anna, die ihn nach sechs Jahren erstmals wieder treffen will, kurzfristig ihren Besuch auf der Insel angekündigt hat. In breit angelegten, fast das ganze Buch füllenden Rückblenden erzählt der Autor von der Leidenschaft zwischen dem mit der Silberschmiedin Selma liierten Unternehmer Christian, der von Ehefrau und erwachsener Tochter getrennt lebt, und Anna, einer Lehrerin für Latein und Kunst, die mit dem erfolgreichen Architekten Ewald glücklich verheiratet ist. Anna hält dem psychischen Druck des Seitensprungs nicht lange stand, fühlt sich zutiefst im Unrecht, schließlich macht sie endgültig Schluss mit Christian, beichtet ihrem Mann die Liaison und verlässt ihn, zieht mit den Kindern zu ihrem Bruder in die USA. Die beiden betrogenen Opfer der verhängnisvollen Amour fou finden glücklich zueinander, Selma bekommt sogar noch ein, schon lange ersehntes, Kind von Ewald. Ganz am Ende des Romans nun kommt es endlich zu dem Zusammentreffen des einst in seine Leidenschaft schicksalhaft verstrickten Paares. Beide sind inzwischen ziemlich illusionslos geworden, und auch wenn sie noch ein letztes Mal zusammen im Bett landen, bleibt ihnen letztendlich nicht viel mehr als eine nachträgliche Aufarbeitung ihrer einst so abrupten Trennung, es gibt keine gemeinsame Perspektive für sie

Uwe Timms Roman steckt voller Anspielungen, beginnend schon beim Titel, der sich auf den Minnesänger gleichen Namens bezieht, und die Hauptfigur hat ihren Namen von dessen Zeitgenossen Wolfram von Eschenbach, beide sind ja Gestalten in Wagners Liebesoper Tannhäuser. Eine «Norne» genannte Meinungsforscherin ist unschwer als Elisabeth Noelle-Neumann zu identifizieren, der vom Wal verschluckte biblische Prophet Jonas ist Namensgeber für Annas Kind, das sie bald nach ihrer Übersiedlung in den USA bekommt. Dies und Dutzende weitere Bezüge überfrachten die Geschichte regelrecht.

Der Konflikt zwischen Begierde und Vernunft wird in ausgedehnten philosophischen Meditationen des einsamen Helden auf der Insel vor dem Leser ausgebreitet, ruhig und gelassen erzählt, allerdings völlig altmodisch anmutend, geradezu der Zeit entrückt in seiner rigiden Ehemoral. Anders als bei «Effi Briest» gibt es hier wenigsten kein Duell mehr. Die weibliche Sehnsuchtsfigur Anna bleibt ungewöhnlich blass, Begehren und Leidenschaft, gar Liebeswahnsinn wird nicht glaubhaft vermittelt bei diesem seltsam coolen Paar. Wer «Die Entdeckung der Currywurst» gelesen hat von Uwe Timm mit wahrlich mitreißendem Plot, der dürfte hier ziemlich enttäuscht sein. Nur der kauzige englische Freund am Telefon war mir da zuweilen ein Lichtblick mit seinen erstaunlichen Reflexionen, und dann gibt es ja auch noch die zweite Erzählebene, die Vogelinsel mit ihrem einsamen Bewohner und ihrer Natur. Da erfährt man dann unter anderem vom unterschiedlichen Liebesleben der Vögel, von denen sich, wenn wundert’s, die Spatzen als besonders promiskuitiv und schamlos erweisen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln