Jahrestage

Mega-Roman im Intervall

Mit seinem Epos «Jahrestage» hat Uwe Johnson den Versuch unternommen, Realität verlustfrei in Sprache zu transferieren. Wie der Untertitel verrät, dient ihm dabei das Leben seiner Protagonistin Gesine Cresspahl als Spiegel für eine großangelegte Gesellschaftsstudie, in der er zu dem Ergebnis kommt, dass allen äußeren Widerwärtigkeiten zum Trotz der Mensch letztendlich seine seelische Integrität durchaus zu bewahren vermag. Der erste Teil des vierbändigen Werkes erschien 1970, der letzte 13 Jahre später. Man kann das systemkritische Hauptwerk von Uwe Johnson als engagierte Suche nach dem richtigen Leben deuten.

Der in 366 Tageskapitel eingeteilte Roman stellt eine subjektive Jahreschronik dar, vom 19.8.1967 bis zum 20.8.1968, den Schalttag eingeschlossen, ein Weltjahr also, wie es Siegfried Unselt formuliert hat. Ort der Handlung ist New York, Johnson lässt die 34jährige Gesine, die dort bei einer Bank arbeitet, mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie im Apartment 204, 243 Riverside Drive, Manhattan wohnen, seine eigene Wohnadresse während seines zweijährigen Aufenthalts. Eine zweite Erzählebene bildet die fiktive Kleinstadt Jerichow in Mecklenburg, aus der Gesine 1953 während der DDR-Zeit in den Westen flüchtete, ehe sie dann 1961 nach New York ging. Neben der Hauptfigur und ihrer altklugen Tochter als Zuhörerin fungiert der Autor in Person als Protokollant ihrer Erzählungen. Als zweite Erzählinstanz tritt er zuweilen in Dialogen mit Gesine auf, die nicht immer friedlich verlaufen. «Wir können auch heute noch aufhören mit deinem Buch» hält sie ihm an einer Stelle entgegen. Quasi eine dritte Erzählinstanz ist die für Gesine unentbehrliche New York Times, ihre tägliche Pflichtlektüre, aus der im Roman tagebuchartig in beinahe allen Kapiteln zitiert wird. Nicht nur dass die Zeitung als seriöse Zeitzeugin die politischen und sozialen Themen zur Handlung beisteuert, der Autor vermittelt damit auf raffinierte Weise auch Authentizität.

Häufig unterbrochen durch Fragen der wissbegierigen Marie erzählt Gesine unermüdlich aus ihrem bewegten Leben und aus dem ihrer Vorfahren. Wobei, wie es der Untertitel «Aus dem Leben von Gesine Cresspahl» schon relativiert, all diese Rückblenden nie wirklich vollständig sein können. Der zeitliche Rahmen der Erzählungen reicht von Gesines Geburtsjahr 1933 mit der Machtergreifung der Nazis über das Kriegsende mit der gefürchteten Roten Armee in Mecklenburg, das nachfolgende sozialistische Paradies der DDR, die gefährliche Epoche des Kalten Krieges und den Vietnamkrieg bis hin zum Prager Frühling. Der Roman endet mit dem 20. August 1968, an dem die Russen den Reformen von Alexander Dubček ein Ende setzten. Zum persönlichen Schicksal von Gesine gehört neben dem frühen Tod ihrer Eltern auch der politisch bedingte Tod von Maries Vaters, über den sie untröstlich ist. Sie hat sich in eine Art inneres Exil zurückgezogen und lebt weitgehend in ihren Erinnerungen, die sie nach dem Motto «… für wenn ich tot bin» auch auf Tonband spricht.

In einer Art Collage werden persönliche Erinnerungen mit Zeitungsausschnitten, Briefen und Dialogen zu einer Erzählung zusammengefügt, die geradezu fanatisch nach Wahrheit strebt. Sprachlich ist der Roman durch eine äußerst präzise Beschreibungskunst gekennzeichnet, deren parataktischer Satzbau sich zielgerichtet aufs Wesentliche konzentriert. Neben etlichen Einsprengseln in Platt finden sich darin ganze Passagen in Englisch, Französisch und anderen Sprachen bis hin zu Russisch. Man kann hier mit Recht von einem Sprachkunstwerk reden, dessen schwierige Lektüre allerdings, nicht nur vom schieren Seitenumfang her, einiges an Durchhalte-Vermögen voraussetzt. Dieser collageartig aufgebaute Mega-Roman eignet sich aber auch ideal zum sequentiellen Lesen, immer wieder mal hundert Seiten im Intervall. Es gibt in ihm ja keinen durchlaufenden Erzählfaden, man kann also problemlos jederzeit wieder einsteigen in die Lektüre dieses kanonischen Werkes.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Mutmaßungen über Jakob

johnson-1Ambitioniertes Zeitzeugnis

In Peter Suhrkamps Sterbezimmer, so die Anekdote, fand Siegfried Unseld 1959 ein ungelesenes Manuskript, das noch im selben Jahr veröffentlicht wurde, der Roman «Mutmassungen über Jakob» von Uwe Johnson. Schon der Titel dieser ersten Veröffentlichung des Autors ist beredt: Hatte Johnson, wie spekuliert wird, kein ß auf seiner Schreibmaschine? War die falsche Orthografie Schlamperei oder ein Marketing-Gag des Verlages? Wie auch immer, das Wort Mutmaßungen deutet bereits auf das sprachliche Konstrukt dieses heute als kanonisch eingestuften Romans hin, an dem viele Leser scheitern, der nicht zuletzt sogar professionelle Kritiker und Schriftstellerkollegen polarisiert. Wer die Literatur nicht nur als angenehmen Zeitvertreib ansieht, sondern vielmehr als großartige Kunstgattung, die ihn insgesamt interessiert, in allen ihren Ausformungen also, der sollte sich der Mühe unterziehen, diesen Roman zu lesen – und seinen literarischen Horizont zu weiten damit.

«Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen» lautet bezeichnenderweise schon der erste Satz, denn Jakob Abs, Dispatcher bei der Reichsbahn der DDR, sparte sich durch diese Abkürzung eine halbe Stunde Fußweg um das Bahngelände herum, – diesmal aber kostete es ihn sein Leben, er wurde von einer Rangierlok erfasst. Unfall, Selbstmord oder Mordanschlag, alles ist möglich, es darf gemutmaßt werden! Ausschließlich in Rückblenden schildert dieser Roman die Vorgeschichte dieses tragischen Todes, eine Klärung bietet er nicht. Enzensberger soll (ironisch?) von einer aktiven Rolle des Lesers gesprochen haben, die dieser Roman ihm anbietet als detektivische Aufgabe über das reine Lesen hinaus.

Auf der Flucht vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges war Jakob mit seiner Mutter beim Kunsttischler Cresspahl und dessen Tochter Gesine in Jerichow untergekommen, ein fiktiver Ort an der Ostsee in Mecklenburg. Zwischen den Vieren bildete sich ein familiäres Verhältnis heraus. Als Gesine nach Frankfurt am Main übersiedelt, dort eine Stelle als Dolmetscherin bei der Nato findet und später auch Jakobs Mutter in den Westen geht, ruft das natürlich die Stasi auf den Plan: ein DDR-Agent versucht, den regimetreuen Jakob dafür zu gewinnen, Gesine als Spionin anzuwerben. Sie hat inzwischen den Anglisten Dr. Jonas Blach kennengelernt und mit ihm eine Affäre begonnen, nach einem wissenschaftlichen Vortrag ist er als Logiergast in Cresspahls Haus, um dort in Ruhe eine Abhandlung über notwendige Reformen in der DDR zu schreiben. Als Jakob von einem Westbesuch bei Gesine zurückkommt, wird er von der Lok überrollt.

Zeitlicher Hintergrund dieser Geschichte sind der Ungarnaufstand und die Suezkrise im Jahre 1956. In Johnsons Hauptwerk, dem vierteiligen Romanzyklus «Jahreszeiten», taucht Gesine später als Hauptfigur erneut auf. Die beiden deutschen Staaten sind ein zentrales Thema in Johnsons Werk, wobei ihm die historische Situation als Basis dient bei der Ausformung seiner Figuren, nicht die Grenze als solche. Die ja damals so scharf noch gar nicht gezogen war, die Mauer kam später, man vergisst das heute leicht. Sprachlich ist Johnsons Roman eine radikale Abkehr von konventionellen Erzählweisen. Allein schon die verschiedenen, oft nur schwer erkennbaren Perspektiven seiner fragmentarischen Textblöcke, viel mehr aber ihre abrupten Übergänge in einem erzählerischen Stakkato ohnegleichen stellen extrem hohe Anforderungen an Geduld und Aufmerksamkeit des Lesers, von der eigenwilligen Syntax, fremdsprachlichen Einsprengseln und dem plattdeutschen Palaver des alten Cresspahl ganz zu schweigen. Ein Verwirrspiel, welches man dem Autor dieses wenig gelesenen, sperrigen Romans vorwerfen kann, der beide deutsche Staaten gleichermaßen kritisch betrachtet und ihre Ideologien als menschenfeindlich bloßstellt. Und auch wenn heute vieles überholt erscheint von der damaligen Problematik, ist der Roman doch ein literarisch ambitioniertes Zeitzeugnis ohne Beispiel.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main