Der letzte Satz

Schwaches Büchlein

In dem neuen Roman «Der letzte Satz» greift der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler erneut den Tod als Thematik auf, wie schon in seinem vor zwei Jahren erschienenen Roman «Das Feld». Konträrer aber können zwei aufeinander folgende Romane eines Autors gar nicht sein, was ihre literarische Qualität anbelangt. Während der in jeder Hinsicht erstklassige Vorgänger mit seinen 29 verstorbenen Ich-Erzählern eine, wie ich es damals formuliert habe, «unpathetische Antwort auf die Sinnfrage» gibt, behandelt das neue Buch völlig uninspiriert das Siechtum des Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler. Der berühmte Musiker ahnt 1911, auf seiner letzten Schiffpassage von New York nach Europa, den nahen Tod voraus und denkt über die Höhen und Tiefen seines Lebens nach. Dabei listet dieser in jeder Hinsicht enttäuschende, schmale Band geradezu lexikalisch nüchtern hinlänglich bekannte Stationen im Leben des Protagonisten auf. Und daraus entsteht dann letztendlich nichts anderes als erzählerischer Kitsch, nicht bereichernd, abstoßend rührselig, völlig ereignis- und spannungslos obendrein!

Auf einer Kiste an Deck sitzend starrt Gustav Mahler sinnierend auf den grauen Atlantik, während er sein Leben rekapituliert. Ein Schiffsjunge, extra für ihn abkommandiert, sorgt sich um sein Wohlergehen. Er serviert ihm regelmäßig den Tee und achtet vor allem darauf, dass der oft fiebernde Passagier immer warm in seine Decke eingehüllt ist. Seine mitreisende Frau Alma und die innig geliebte Tochter Anna besuchen ihn nicht auf dem zugigen Sonnendeck. Das banale Geschehen auf dem Schiff dient hier lediglich als narratives Gerüst für Erinnerungen, Selbstgespräche und Träume des Fünfzigjährigen. In einem schon fast peinlichen Schlusskapitel schließlich liest der ehemalige Schiffsjunge in einer Hafenkneipe vom Tod des «Direktors», wie er ihn immer genannt hat.

Seinen Durchbruch hatte Gustav Mahler als Kapellmeister und Direktor des Wiener Opernhauses, das er in seiner zehnjährigen Tätigkeit zu großem Erfolg geführt hat. Der Weg war steinig dorthin, aber er habe seine Opernreform letztendlich ja durchsetzen können, stellt er befriedigt fest. Seine ihm immer wichtiger werdende kompositorische Arbeit aber musste er hintanstellen, er denkt mit Wehmut an sein Komponierhäusel zurück, wo er bis zuletzt in den spielzeitfreien Sommermonaten an seinen Sinfonien gearbeitet hat. Mit denen er dann aber bei weitem nicht den Erfolg hatte, den er sich erhoffte. Natürlich fehlt in seiner Rückbesinnung auch die ‹Sinfonie der Tausend› nicht, jene monströse Uraufführung vor dreitausend Besuchern in München, die ihm nun, ein Jahr später, eher peinlich ist. Er denkt an seine gescheiterte Ehe mit Alma, die als Femme fatale in den Wiener Salons und in Künstler-Kreisen von den Männern umschwärmt wird. Wehmütig erinnert er sich auch an seine Tochter Maria, die als Kind überraschend starb, und besonders niederschmetternd ist für ihn die derzeitige Affäre von Alma mit Walter Gropius, der im Roman nur als «Baumeister» bezeichnet wird. In Paris hatte Mahler sehr widerwillig bei Rodin Modell gesessen für eine Büste, und in der holländischen Stadt Leiden war er vier Stunden lang bei Siegmund Freud. Der aber konnte ihm letztendlich, wie er inzwischen weiß, mit seiner psychoanalytischen Expertise auch nicht weiterhelfen in seiner Seelenpein.

«Meine Zeit wird kommen» hatte der echte Gustav Mahler vorausgesagt, und sie kam dann auch, Jahrzehnte später allerdings, mit der Wiederentdeckung seiner Sinfonien lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Robert Seethaler aber bleibt hier weit unter seinen Möglichkeiten, entschieden zu oberflächlich und erzählerisch geradezu lieblos hingeschludert wirkt dieser schmale Band. Die starke Persönlichkeit, die ihm da als literarische Vorlage dient, bleibt auch in den Rückblenden als Figur leider völlig konturlos. Nach Lektüre dieses schwachen Büchleins mag man wirklich kaum glauben, dass vom gleichen Autor auch «Das Feld» geschrieben wurde!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Ein ganzes Leben

Robert Seethaler dreht die Uhr um einhundert Jahre zurück und führt den Leser in die raue Bergwelt der Alpen. Sein Held Andreas Egger, ein gebirgserfahrener junger Handlanger in einem österreichischen Tal, besucht ein eremitisch lebendes Unikum, den Hörnerhannes. Er findet den Ziegenhirten todkrank und bis auf die Knochen abgemagert in einer Ecke. Egger will ihn ins Tal tragen, dort gibt es medizinische Hilfe. Doch der Todgeweihte will in seiner Welt bleiben. Er springt mit letzter Kraft aus der Kraxe, die sein Retter für den Transport auf den Rücken geschnallt hat und verschwindet im Schneegestöber. Weiterlesen


Genre: Biographien, Romane
Illustrated by Goldmann München

Das Feld

Seelisch bereichernd

Nach zwei ebenfalls erfolgreichen Vorgängern ist dem österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler mit dem aktuellen Roman «Das Feld» erneut ein Bestseller gelungen. In Abkehr von seinen bisherigen Themen hat er sich narrativ dabei dem Tod gewidmet, und zwar aus einer ungewöhnlichen Perspektive, es sind die Toten selbst, die da post mortem erzählen. Als Kosmos dient ihm eine fiktive Kleinstadt, und sein Romantitel weist als erzählerischen Quell den Ort aus, auf dem ein alter Mann Stimmen hört, den Friedhof von Paulstadt, dort nur «Das Feld» genannt. Kein gefälliger Erzählstoff also, ein Tabuthema auch noch, und trotzdem ein Bestseller?

Im ersten Kapitel «Die Stimmen» sinniert der alte Mann, auf seiner vermoderten Holzbank inmitten des Gräberfeldes sitzend, über die Toten, die rings um ihn herum ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. «Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden.» Es sind 29 Gestorbene, die da als Ich-Erzähler in ebenso vielen, unterschiedlich großen Kapiteln zu Wort kommen und von ihrem Leben und Sterben erzählen, wobei sich ihre Wege immer wieder kreuzen in einem lockeren Erzählgeflecht. Die Liebe ist natürlich ein Thema, von gescheiterten Beziehungen bis zum Händchenhalten noch im Tod, vom Sex mit einem dicken Geliebten bis zur Frau mit 67 Männern, von denen sie nur einen geliebt hat. Ein verwirrter Pfarrer zündet seine Kirche an, ein arabischer Gemüsehändler bringt die Asche seiner Eltern in die Heimat, ein korrupter Bürgermeister berichtet in Briefform von seinen Schandtaten, ein Spielsüchtiger zerstört sein Leben, ein Junge begeht Suizid im Froschteich, ein anderer erzählt von dem Autounfall, bei dem er stirbt. Wir begleiten den Briefträger auf seiner Runde, der Autohändler erlebt den glücklichsten Tag seines Lebens, der beste Freund verschwindet spurlos für immer, ein Bauer verkauft listig sein wertloses Land. Vom beruflichen Aufstieg eines Zeitungsverlegers wird erzählt und vom Niedergang eines Schuhgeschäfts, vom Sterben einer Hundertfünfjährigen und am Ende auch von einer harmlos scheinenden Verletzung im Urlaub. «Was ist das für ein Strich, Mama? Was meinst du? Der rote Strich an deinem Arm, schau mal, er sieht aus wie eine Straße!» Die Familie ist auf der Heimfahrt, schon kurz vor dem Ziel. «Fred sieht mich an. Dann schaltet er einen Gang zurück und gibt Gas. Von jetzt an geht es schnell» endet das Kapitel lapidar.

Erstaunt hat mich, dass ein Roman über das Sterben und den Tod so entspannend sein kann. Robert Seethaler erzählt sehr gelassenen vom Leben bis zu seinem Ende, wobei es hier kein Totenreich gibt wie bei Dante, weder Himmel noch Hölle, er weist den Toten lediglich eine Stimme zu und lässt sie ganz selbstverständlich mit den Lebenden kommunizieren. Seine Herangehensweise dabei geht konsequent von der menschlichen Würde aus, er diffamiert seine Figuren nicht, sondern beschreibt sie wertfrei mit wenigen treffenden Worten, geradezu plastisch, und zeichnet damit stimmig ein auf seinen Wesenskern reduziertes Panoptikum gelebten Lebens.

Der Autor hat es vorgezogen, seinen Figuren, die ja allesamt das Sterben bereits hinter sich haben, eine einheitliche, klare und treffsichere Sprache zu unterlegen. Bekanntlich macht der Tod alle gleich, und so ist es thematisch angemessen und auch logisch, auf eine unterschiedliche Diktion zu verzichten bei diesen jenseitigen Stimmen. Außerdem reduziert der Autor mit seinem narrativen Kunstgriff das Jenseits gekonnt auf das rein Sprachliche. Und was da episodenweise ziemlich gelassen erzählt wird, das kann man nur als unpathetische Antwort auf die Sinnfrage deuten, es sind jedenfalls überraschende Reflexionen und selten vernommene Lebensweisheiten. Der seines fraktionellen Aufbaus wegen zwar nicht gerade leicht zu lesende, aber versöhnlich stimmende Roman ist insoweit auch existenziell sehr berührend, – seelisch bereichernd ist er als zeitloses Werk allemal.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin