Ach, Virginia

Ach, hätte der Autor

Mit dem neuen Roman «Ach, Virginia» hat Michael Kumpfmüller nach seinem literarischen Biopic über Franz Kafka nun auch Virginia Woolf porträtiert, eine der Göttinnen aus dem Olymp britischer Literaten, die, insgesamt gleich viermal vertreten, im BBC-Kanon der hundert besten Romane prominent Platz zwei und drei belegt. Dieses spezielle Genre einer narrativen Melange aus Biografie und Fiktion läuft unübersehbar allerdings Gefahr, der Bedeutung der Porträtierten nicht gerecht zu werden, zumal einer solch berühmten, – wofür dieses Buch ein beredtes Beispiel ist.

Tagebuchartig werden die letzten zehn Tage vor dem Suizid der 59jährigen Virginia Woolf erzählt, die sich am 28. März 1941 nahe ihrem Cottage ‹Monk House› ertränkte. Eingerahmt ist diese Erzählung in einen als «Interkontinentalflug» betitelten, kursiv gesetzten Prolog, in dem der Autor den akuten psychischen Zustand seiner Protagonistin beschreibt und ihn, in Anspielung auf den Titel, als Sinkflug bezeichnet. Vervollständigt wird dieser erzählerische Rahmen durch einen ebensolchen Epilog, welcher, nun aus Sicht von Leonard Woolf, einen Ausblick auf dessen weiteres Leben nach dem Suizid seiner Frau gewährt. Er führte mit ihr eine platonische Ehe, während der dann auch ihre dreijährige Liebesbeziehung zu der Schriftstellerin Vita Sackville-West nicht weiter störte, die dann später in eine lebenslange Freundschaft mündete. Die emanzipatorischen Antriebe von Virginia Woolf, ihr erbitterter Kampf um Eigenständigkeit wirken bis heute nach und tragen nicht wenig zu ihrem Ruhm bei. Besonders tragisch in ihrem bewegten Leben aber war die fehlende Anerkennung ihrer Werke durch ein breiteres Lesepublikum, sie war zu Lebzeiten allenfalls einer kleinen literarischen Elite bekannt. Offensichtlich lag eine genetische Disposition für ihre lebenslang andauernden, manischen Depressionen vor, unter denen auch ihr Vater schon litt, bereits als 13Jährige brach sie beim Tod der Mutter unter ihrem ersten psychischen Kollaps zusammen.

Der Autor arbeitet geradezu sezierend die Tragik ihrer labilen Psyche in seinem Roman heraus, ihre ständigen Selbstzweifel und Schreibblockaden nehmen einen breiten Raum ein in seiner Innensicht einer großartigen Schriftstellerin, die verzweifelt mit ihren nächtlichen Dämonen kämpft. Der deutsche Bombenkrieg, bei dem ihre Londoner Wohnung zerstört wurde, und auch die Angst vor einer baldigen Invasion drücken auf ihr Gemüt, sie fühlt sich hilflos gefangen in der ländlichen Einsamkeit und sieht nur noch den Tod als letzten Ausweg. In weiten Teilen ist dieser Roman als Bewusstseinsstrom geschrieben, ein endloses Sinnieren und Reflektieren seiner tragischen Heldin, das durch Zitate aus Tagebucheinträgen und Briefen ergänzt wird. Die könnten das Fiktive authentisch ergänzen, wäre dabei nicht die offensichtliche Camouflage herauszulesen, mit der sie ihre wahre seelische Befindlichkeit denn wohl doch schamhaft verschleiert.

Es ist ein kühnes Unterfangen, sich in das Innerste eines realen Menschen hinein zu versetzen und von dort aus glaubhaft berichten zu wollen, insbesondere wenn es sich um die Innensicht einer Selbstmörderin kurz vor ihrem Suizid handelt. Und besonders kühn, um nicht zu sagen frech ist es, wenn jemand wie Virginia Woolf dafür herhalten muss. Frech deshalb, weil literarisch Welten liegen zwischen ihr und ihrem fiktionalen Biografen, dessen Roman weder sprachlich noch von der gedanklichen Tiefe her auch nur Mittelmaß erreicht und streckenweise in peinlichster Banalität versinkt. Diese Anmaßung ist grandios gescheitert, weder erfährt man biografisch wirklich Erhellendes über die weltberühmte Literatin noch wird man gut unterhalten. Die ermüdende Erzählung schleppt sich vielmehr langatmig in immer neuen, spekulativen Denkschleifen durch ein seelisches Chaos. «Sie selbst möchte nach ihrem Tod in Büchern ungern zerlegt werden» heißt es an einer Stelle. Ach, hätte der Autor doch wenigstens diesen eigenen Satz beherzigt!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Nachricht an alle

Wer Visionen hat

Unter dem Titel «Nachricht an alle» ist von Michael Kumpfmüller im Jahre 2008 ein politischer Zeitroman erschienen, in jenem leider vernachlässigten Genre der Literatur also, in dem Koeppens «Das Treibhaus» von 1953 Maßstäbe gesetzt hat. An die nun weder der vorjährige Buchpreisgewinner Robert Menasse mit «Die Hauptstadt» heranreicht noch Kumpfmüller, dessen Eingangskapitel Großes erwarten lässt. Schon der Romantitel deutet eine dramatische Szenerie an, und gleich im einleitenden Kapitel sendet Anisha, die Tochter des Protagonisten, aus einem abstürzenden Flugzeug per SMS eine letzte Nachricht in die Welt hinaus. «Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe Euch».

Mit diesem Paukenschlag beginnt die Geschichte des Politikers Selden, Innenminister eines nicht genannten westeuropäischen Staates, der mitten in der Nacht diese Horror-Nachricht erhält, ein in unserer handynärrischen Moderne durchaus realer Albtraum. Der Staat ist in einer schweren Krise, die nicht nur durch erbitterte Streiks und soziale Unruhen, sondern auch durch vermehrte Terrorakte ausgelöst wurde. Dieses Szenario deckt eine bedrückende Ohnmacht der Politik auf, weist gar auf ihr bevorstehendes Ende hin in einer unregierbar gewordenen, bedingungslos ökonomiehörigen Gesellschaft. Der Roman ist eine Zustandsbeschreibung jener abgehobenen politischen Klasse, die nach dem prophetischen Engelmann/Wallraff-Buchtitel «Ihr da oben, Wir da unten» fernab der Bevölkerung in anderen Sphären schwebt.

Das Private, der Protagonist als Mensch, tritt in diesem Roman weitgehend in den Hintergrund. Außer seiner gescheiterten Ehe mit einer Malerin und der ebenfalls verheirateten Geliebten in den USA, die er nur stundenweise im Hotel zum Koitus trifft, ehe beide wieder ihren diversen Terminen hinterher jagen, erfährt man fast nichts. Auch ein Techtelmechtel mit der zwanzig Jahre jüngeren Journalistin Hannah, mit der er schließlich sogar einen Sohn namens Mattis hat, zeigt Selden nicht in einem menschlicheren Licht, er wirkt seltsam seelenlos. Das Politische nimmt einen breiten Raum ein, entwickelt sich aber meist nicht aus dem Geschehen heraus, sondern wird kontemplativ in endlosen Reflexionen des Autors selbst und in den Gedankenströmen seines Helden erzählt. Dazwischen werden Kapitel eingeblendet, in denen die anarchistischen Gegner des Establishments in ihrem ohnmächtigen Bemühen gezeigt werden, die Verhältnisse durch Randale und Terror zu ändern. Die Gewalt der jugendlichen Terroristen gipfelt in einer wachrüttelnden Selbstverbrennung eines der Mädchen und in einem dem Lafontaine-Attentat nachempfundenen Angriff auf den Minister. Albern aber wird es zum Schluss: Im letzten, in der Zukunft angesiedelten Kapitel hat der inzwischen achtzigjährige Selden, der in einem der Waldsiedlung Wandlitz, – ehedem privilegierter Wohnsitz der DDR-Bonzen -, ähnelnden, streng bewachten Prominentenghetto als Pensionär lebt, seinen Sohn Mattis und dessen junge Freundin zu Besuch. Pointe: die Freundin heißt Anisha, – so ein Zufall aber auch!

Zweifellos wird in den politischen Aspekten dieses modernen Gesellschaftsromans viel Wahres ausgesprochen, die ätzende Kritik an den sozialen Verhältnissen ist in allen Punkten nachvollziehbar und durchaus berechtigt. Kumpfmüller findet dafür überaus schlagkräftige Formulierungen in einer wortstarken, wohltuend stimmigen Sprache. Sein Anliegen sei, hat er im Interview erklärt, den Leser des Romans aus seiner Dulderrolle herauszulocken, er müsse seine Ressentiments ablegen, es gehe schließlich um uns alle. Fakten und Fiktion in Kombination, das mündet hier aber leider nicht in Erkenntnis, der Roman scheitert letztendlich an seiner Thematik, an der Komplexität des Politischen nämlich, wo alles mit allem zusammenhängt. Und wo man nicht agiert, sondern allenfalls reagiert. «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen» lautet ja ernüchternd das berühmte, nassforsche Zitat von Helmut Schmidt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main