Der Nachtwächter

Modernes Indianer-Epos

Mit dem Roman «Der Nachtwächter» öffnet die US-amerikanische Schriftstellerin Louise Erdrich einen aufschlussreichen Einblick in die Kämpfe der indigenen Bevölkerung gegen die geplante Assimilierung. Im Nachlass ihres indianischen Großvaters fand die Autorin viele Briefe von ihm an seine Kinder, die «eine Fundgrube für spannende, lustige, klischeeferne Alltags-Geschichten aus dem Reservat» waren, wie sie im Nachwort schreibt, und die fiktional ergänzt in ihren Roman eingeflossen sind. Die Regierung in Washington verfolgte Anfang der 1950er Jahre Pläne zur Aufhebung der einst vertraglich festgelegten Sonderrechte der indianischen Bevölkerung, die, so lautet der Vertrag, gelten sollen, «solange das Gras wächst und die Flüsse fließen». In den USA gilt die in Deutschland weniger bekannte Louise Erdrich als eine der besten Gegenwarts-Autorinnen, der vorliegende Roman wurde 2021 mit dem begehrten ‹Pulitzer Prize for Fiction› ausgezeichnet.

Am 1. August 1953 wurden in der House Concurrent Resolution 108 die Indianerstämme benannt, die zur «Terminierung» vorgesehen waren, unter ihnen auch der Turtle Mountain Band of Chippewa. Die sogenannte Terminations-Politik sollte angeblich die in prekären Verhältnissen lebende, indianische Bevölkerung wirtschaftlich dem Niveau der weißen Bevölkerung angleichen. Letztendlich aber zielte sie nur darauf ab, endlich die Reservate aufzulösen und damit im Immobilienboom jener Jahre das Land für die großen Konzerne verfügbar zu machen. Männlicher Protagonist des Romans ist Thomas Wazhashk, der titelgebende Nachtwächter. Er kämpft als Vorsitzender des Stammesrates an vorderster Front gegen diese Pläne, beschäftigt sich intensiv mit der listig verklausulierten Gesetzesvorlage, schreibt in den langen Nachtstunden Briefe an das Bureau of Indian Affairs, an den Senator von North Dakota, und er korrespondiert mit den weitverstreut siedelnden, anderen Stammesräten. Als er nach zähem Kampf schließlich erreicht, dass eine Anhörung vor dem zuständigen Unterausschuss im Kongress anberaumt wird, sammelt er auch noch Geld ein bei seinen Leuten, damit eine kleine Delegation mit ihm zusammen für einige Tage nach Washington reisen kann.

Um diesen Handlungsrahmen herum schildert die Autorin in mehreren parallel verlaufenden Handlungssträngen vom Leben der Indianer im Reservat North Dakotas. Einziger Arbeitgeber ist dort eine in der Nähe angesiedelte Lagersteinfabrik, in der viele indigene Frauen beschäftigt sind. Sie bohren winzige Löcher in Edelsteine, die vor allem in der Uhrenindustrie gebraucht werden, eine Präzisionsarbeit, die für Männerhände nicht geeignet ist. Die beste Arbeiterin dort ist Patrice, die weibliche Protagonistin des Romans, eine blitzgescheite, toughe junge Frau, die von ihrem Lohn die ganze Familie ernähren muss. Ihre ältere Schwester ist nach Minneapolis gegangen und hat sich dann nicht mehr gemeldet. Monate später macht Patrice sich auf, um ihre verschollene Schwester und deren Baby zu finden. Sie findet das Baby auch und nimmt es mit nach Hause, ihre Schwester aber ist mutmaßlich in die Hände von Zuhältern geraten und wird irgendwo als Sexsklavin gefangen gehalten. Ein weiterer Handlungsstrang beschäftigt sich mit dem Boxsport, dessen Trainer für die schöne Patrice schwärmt, die ihm aber die kalte Schulter zeigt. In vielen Episoden, die kunstvoll zu einem beeindruckenden Epos miteinander verbunden sind, wird von weiteren Figuren aus dem Stamm der Chippewa erzählt. Sie sind allesamt sympathische Charaktere, die stimmig geschildert werden.

Mit leichter Hand und trotz aller Tragik humorvoll wird hier vom drohenden Verlust der Identität indianischer Stämme berichtet, die alle nicht Farmer werden wollen. In ihnen ist das Erbe ihrer Vorfahren tief verwurzelt, die bekanntlich nomadisierende Jäger waren. Leicht lesbar und mit einem klug aufgebauten Plot ist dieses moderne Indianer-Epos eine bereichernde Lektüre.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
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