Erbin des verlorenen Landes

Postkoloniale Lethargie

Mit ihrem zweiten Roman «Erbin des verlorenen Landes» gewann die indischstämmige Schriftstellerin Kiran Desai 2006 den britischen Booker Prize. Darin zeichnet sie ein nüchternes, deprimierendes Bild der indischen Gesellschaft, wovon schon der Buchtitel kündet. Die nach China zweitgrößte Nation der Welt wird im Umbruch zwischen archaischen Traditionen, nachwirkendem Kolonialismus und überfordernder Globalisierung am Beispiel von Menschen aus den unteren sozialen Schichten beschrieben.

Zeitlich ist dieser resignative Roman Mitte der 1980er Jahre angesiedelt, Handlungsort ist Kalimpong, eine kleine Stadt im Distrikt Darjeeling des Bundesstaates Westbengalen. Historischer Hintergrund ist der Aufstand der Gurkhas, und es beginnt denn auch gleich dramatisch mit einem Überfall der Rebellen auf einen pensionierten Richter, der mit seinem Koch in ärmlichsten Verhältnissen in einem abgelegenen, verfallenen Haus lebt. Die magere Beute der jungen Aufständischen aus Nepal sind drei uralte, nicht mehr brauchbare Gewehre, ansonsten ist dort nichts zu holen für sie. Der wortkarge, desillusionierte Jurist hatte in Cambridge studiert, heute spielt er Schach mit sich selbst und lebt völlig zurückgezogen. Er hat seine 17jährige Enkelin Sai bei sich aufgenommen, die als Waise eine strenge christliche Klosterschule mit grotesken Erziehungsmethoden besucht hatte. Darunter hat sie sehr gelitten und sich beim Großvater dann wieder in ein naives Naturkind zurückverwandelt, das sich als «Erbin des verlorenen Landes» fühlt. Um sie in Mathematik und den Naturwissenschaften weiterzubilden, engagiert der Richter den Hauslehrer Gyan. Prompt verliebt sich die pubertierende Sai in den schüchternen jungen Mann. Doch aus all ihren Blütenträumen wird nichts, denn Gyan schließt sich den Aufständischen an, deren Ziele er für legitim hält. In einer zweiten, in New York angesiedelten Handlungsebene wird alternierend vom Sohn des Kochs berichtet, der sich als illegaler Migrant mit ständig wechselnden Gelegenheitsjobs durchschlagen muss. In den Briefen an den Vater schreibt er von seinem Glück in der Neuen Welt und gaukelt dem alten Mann Erfolge vor, lebt in Wahrheit aber im unsäglich primitiven Milieu der Tellerwäscher, ohne jede Chance auf Besserung.

Dieses kunstvoll komponierte Panorama eines Indiens der trügerischen Idylle erzählt von naiven Illusionen, die zu desillusionierenden Irritationen seiner Protagonisten führen. In einer derart veränderten Welt können sie sich nicht mehr zurechtfinden. Sie trauern einer Vergangenheit nach, in der die grandiose Natur und die vitalen Lebensansprüche der in ihr lebenden Menschen harmonisch in Einklang zu sein schienen. Diese Ursprünglichkeit ist verloren gegangen, und die heraufziehenden Veränderungen verheißen nichts Gutes für die kleinen Leute, sie fühlen sich politisch und ökonomisch abgehängt, für sie ist die Welt aus den Fugen geraten. Entstanden ist dieser Frust nach dem Abzug der Briten, dessen befreiende Wirkung nicht zu mehr Würde für die untersten Schichten geführt hat, der sie vor allem aber auch nicht aus ihrem Elend befreit hat.

Der postkolonialistische Roman entwickelt sich fragmentarisch aus vielen, rasch wechselnden, kurzen Szenen, wobei das Augenmerk der auktorial erzählenden Autorin weniger auf ihren Protagonisten ruht, deren Lebenslinien sie miteinander verknüpft, als auf der exotischen Szenerie, in der sie sich durchs Leben schlagen müssen. Dieses Kaleidoskop lebensbunter Bilder überdeckt allerdings das bedauerliche Fehlen einer politischen Würdigung der geschilderten Begebenheiten sowohl in Indien wie auch in den USA. Es wird unterstellt, dass alles schicksalhaft miteinander verbunden und historisch vorbestimmt sei, was dann auch die Lethargie der als selbstgenügsam dargestellten Bevölkerung erklären soll. Störend sind aber vor allem die vielen Klischees, die hier bedient werden, wobei deren überreichlich vorhandenes Ekelpotential das Lesen alles andere als erfreulich macht.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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