“Cancel Culture” – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken

Was veranlasst uns dazu, jemanden einer Plattform zum Meinungsaustausch zu berauben? Warum bestehen so viele Unstimmigkeiten bei der Definition des Begriffs „Cancel Culture“? Verstößt „Cancel Culture“ tatsächlich gegen den demokratischen Toleranzgedanken? Oder weist gerade die Demokratie gesetzliche Lücken auf, derer sich verschiedene politische Lager mithilfe des Cancelns schamlos bemächtigen? Ist jede Form der Meinungsverweigerung als „Cancel Culture“ klassifizierbar, ist sie jemals gerechtfertigt?

Der Philosoph und Ex-SPD-Kulturminister Julian Nida-Rümelin widmet sich in seinem neuen Sachbuch „Cancel Culture – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken“ u. a. den obigen Fragen.

Expertokratie, Szientismus – das Ende der Demokratie?

Nida-Rümelin untersucht Phänomene der „Cancel Culture“ avant la lettre in unterschiedlichen Zeitepochen. Er nennt Bedingungen für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft sowie Umstände, unter denen er diese gefährdet sieht. All das untermauert er mit philosophisch-politischen Ansätzen: Von Plato und Aristoteles bis hin zu Thomas Hobbes, John Locke, Immanuel Kant und John Rawls.

Cancel Culture – so der Autor – behindere das Projekt der Aufklärung. Diesem zufolge besitze jeder Mensch die Fähigkeit , sich unabhängig vom Staat ein politisches Urteil zu bilden. Obwohl sich Nida-Rümelin da eher skeptisch zeigt, plädiert er dennoch für die Förderung eines Vernunftverständnisses. Dieses müsse weniger auf wissenschaftlicher Expertise und mehr auf alltäglicher Lebenserfahrung basieren.

Nida-Rümelin übt Kritik an Expertokratie und Szientismus aus. Wissen und empirische Wissenschaften dürften keineswegs von Eliten für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Stattdessen müssten sie in verständlicher Sprache in die öffentliche Zivilgesellschaft eingebettet werden, um populistische Bewegungen oder Hetzkampagnen einzudämmen. Nur so könnte man freies und kritisches Gedankengut ermöglichen. Der Hang zur Expertokratie habe spätestens seit Corona an Bedeutung gewonnen. Am Szientismus bemängelt der Autor von „Der Akademisierungswahn: Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung“ die nach wie vor existente „naive“ Vorstellung, außerhalb des Wissenschaftlichen liege kein Wahrheitsanspruch.

Leicht verklausuliert

Über Nida-Rümelins Implikation, bei der Leugnung von per se nicht widerlegbaren Selbstverständlichkeiten wie „Das ist ein Baum“ handle es sich schon um eine ungewollte, wenn auch nicht behebbare Form der Cancel Culture, lässt sich streiten. Und zwar dann, wenn der Behauptende für diese Aussage gesellschaftlich geschnitten wird. Man fragt sich, ob der Autor mit dieser Verklausulierung den kontroversen Gender-Diskurs im Sinne hatte. Immerhin nennt er am Ende der Abhandlung im Rahmen einer eigens aufgestellten „Cancel-Culture-Kasuistik“ den Fall Kathleen Stock. Stock ist eine britische Philosophin, die sich gegen eine Relativierung des männlichen und weiblichen Geschlechts aussprach, dafür als transphob gebrandmarkt und als Universitätsprofessorin gekündigt wurde.

Nicht unvoreingenommen

Während Nida-Rümelin der Cancel Culture vorwirft, unbeliebte und nicht übereinstimmende Meinungen zu unterdrücken, muss man beim Lesen dennoch die Stirne runzeln. Die – nicht ganz unvoreingenommene – Annahme des früheren SPD-Politikers, die „aktuell größte“ Gefahr für die Demokratie gehe weniger von einer linken Cancel Culture aus, lässt sich widerlegen: Das Verschwinden kanonischer Werke wie William Shakespeares „Sommernachtstraum“, August Strindbergs „Fräulein Julie“ oder Colson Whiteheads „Underground Railroad“ (einer POC!) von akademischen Leselisten und Bibliotheken oder das Umschreiben von Roald Dahls Kinderbüchern und Ian Flemings Spionage-Romanen (James Bond) sind Beispiele gefährlicher linker CC. Sie verzerrt das Verständnis kultureller Sachverhalte zugunsten politischer Indoktrination. Das „Umschreiben“ von Geschichte durch Anachronismen und eine geistige Verhätschelung junger Studierender sind nicht weniger radikal als Xenophobie, religiöser Fanatismus oder die Forderung eines Verbots von Trans-Lesungen für Kinder. Derartige Formen des Cancelns begünstigen solche Entwicklungen sogar.

Auch Joe Biden als „middle of the road“-Kandidaten zu bezeichnen, der „jeder radikalen Intellektulität“ fernstehe, ist nicht ganz unproblematisch. The New York Times und The American Presidency Project haben über Bidens stark schwankende LGBTQI+-Politik berichtet: U. a. von seiner Stimme für den Defense of Marriage Act 1996. Oder seinen Einsatz dafür, die finanziellen Bundesmittel für US-amerikanische Schulen zu streichen, an denen Akzeptanz von Homosexualität gelehrt wurde. 1973 argumentierte Biden, die Aufnahme Homosexueller ins Militär oder in die Regierung berge Sicherheitsrisiken. 1993 stimmte Biden für einen Änderungsantrag zur Kodifizierung des Verbots der dauerhaften Einwanderung von HIV-positiven Migranten durch das Gesundheitsministerium.

Thematisierung unterschwelliger Formen des Cancelns als Stärke

Das Plädoyer für Toleranz mutet etwas banal an. Das mag vielleicht daran liegen, dass der Autor hauptsächlich das Problem unterschiedlicher Auffassungen von Demokratie beleuchtet: Demokratie als Realisierung individueller Rechte und Freiheiten vs. Einschränkung derselbigen durch eine kollektive Entscheidungsinstanz. Eine der Stärken der Streitschrift ist dennoch die Frage nach einer möglichen Existenz einer berechtigten Form von Cancel Culture, z. B. in Form des Arco Costituzionale in Italien nach dem Ende des 2. WK. Dazu gehört auch die Frage, inwiefern die subtilere „Cancel Culture“ zensorische Kontrollmaßnahmen toppt und warum sie sich gesetzlich so schwer fassen lässt. Man denke nur an Facebooks inkonsistente community rules und den Fall des Whistleblowers Julian Assange. Oder an Till Lindemann und die Versuche der Wiener Grünen, Rammstein-Konzerte zu boykottieren.


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Piper Verlag München