Nackt

toussaint-1Mut zum Honigkleid

In der Tetralogie über seine mythische Frauenfigur Marie hat der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint kürzlich den vierten Band unter dem Titel «Nackt» vorgelegt. Er ist im Sinne seines Förderers Alain Robbe-Grillet im Stil des Nouveau Roman verfasst, vertraut also darauf, Spannung zu erzeugen durch Auslassungen. Insoweit erfordert der Roman mitwirkende Phantasie. Der Leser muss, um Verständnislücken zu vermeiden, die Leerstellen in der Geschichte ergänzen, er darf im Kontext mit dem Erzählten seine eigene, individuelle Geschichte konstruieren, die Bilder für sein Kopfkino also nach Gusto komplettieren. Ich habe das Buch geschenkt bekommen und es ohne Kenntnis der vorangehenden Romane als alleinstehende Geschichte gelesen, erst hinterher habe ich ein wenig recherchiert und kann nur bestätigen, dass es sehr wohl auch für sich gelesen werden kann.

Im Mittelpunkt dieses Liebesromans steht Marie Madeleine Marguerite de Montalte, eine zum Jetset gehörende junge Modeschöpferin. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist unsterblich in sie verliebt, ja geradezu vernarrt, ihre Beziehung jedoch gestaltet sich als ein dauerndes Auf und Ab, Versöhnung und Trennung also in ständigem Wechsel. Auffallend ist, dass der Mann völlig passiv erscheint, nur beobachtend, nicht eingreifend in die Geschehnisse, Marie allein ist die Handelnde. Beide Figuren sind schemenhaft, erscheinen als Charaktere konturlos, umso mehr aber stehen die Dinge und Ereignisse im Vordergrund, werden minutiös beschrieben. Wie die Modenschau in dem mit «Herbst-Winter» überschriebenen, vorspielartigen Abschnitt, bei der Marie in einer auf die Spitze getriebenen, experimentellen Kreation ihr «Honigkleid» präsentiert, «eine Haut Couture ohne Couture, eine Nähkunst ohne Naht», wie Toussaint es ausdrückt. Als das nackte, von Kopf bis Fuß mit Honig bestrichene und von lebenden Bienen umschwärmte Mannequin stolpert, gerät die grandiose Inszenierung zum Desaster.

In Fragmenten wird erzählt, wie nach einer Trennung des Paares der eifersüchtige Mann sie heimlich während einer Ausstellung in Tokio beobachtet, wie dort ein Charmeur zunächst eine falsche Marie, dann aber die Modeschöpferin umgarnt, erfolgreich, wie man erfährt. Nach einem gemeinsamen Urlaub auf Elba trennen Marie und der Ich-Erzähler sich wieder, um zwei Monate später für eine Beerdigung schließlich gemeinsam dorthin zurückzukehren. Der Brand der Schokoladenfabrik, dessen Gerüche die ganze Insel einhüllen, der Schock über einen unautorisierten Benutzer ihres Ferienhauses, das ungeheizte Hotelzimmer, die mangels Ortskenntnissen verpasste Beerdigung, all dies wird minutiös geschildert und noch durch allerlei Andeutungen angereichert. Als Marie ihm erklärt, dass sie schwanger ist, zweifelt er, ob er der Vater ist, «weil wir tatsächlich seit mehreren Monaten nicht mehr miteinander geschlafen hatten, mit der Ausnahme dieser einzigen Umarmung …, als wir in aller Herrgottsfrühe, völlig übermüdet und übel zugerichtet, im dämmrigen Licht des Schlafzimmers flüchtig zusammen waren, mehr in einer harmlosen, Trost spendenden Umarmung, als dass wir so richtig, wie es sich gehört, miteinander Sex gehabt hätten (aber ganz offensichtlich zählt so etwas auch, wir waren hier wohl schlecht beraten)». Ob Marie vielleicht auch nur ein bisschen schwanger ist, fragt sich der verdutzte Leser.

In klarer Sprache erzählt der Autor geradezu minimalistisch karg von Marie und dem namenlosen Ich-Erzähler. Wobei er virtuos ebenso mit Zeitebenen spielt wie mit Orten und Figuren und sich, ganz dem Nouveau Roman verpflichtet, aller psychologischen Deutungen enthält. All dies dient ihm hier übrigens nur dazu, sich in immer neuen Reflexionen über seine exaltierte Heldin zu ergehen. Weder Handlung noch Sprache stünden für ihn im Mittelpunkt, sondern eine bestimmte Sicht auf die Welt, hat Toussaint angemerkt. Ob der Leser das am Ende genauso sieht und ob sich gar seine Weltsicht verändert hat, ist ausschließlich in ihm selbst begründet.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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