Das Muschelessen

vanderbeke-1Demontage einer verlogenen Idylle

Gleich ihr Erstling «Das Muschelessen» hat Birgit Vanderbeke 1990 den Ingeborg-Bachmann-Preis eingebracht. Diese Erzählung ist bis heute ihr bekanntestes Werk geblieben und wird inzwischen auch als Schullektüre benutzt, nicht immer zur Freude der Schüler, wie man dem Internet entnehmen kann. In ihrer Geschichte finden sich einige Parallelen zur Vita der Autorin, obwohl sie jedwede biografische Ähnlichkeit natürlich verneint. Wer das Buch gelesen hat, weiß warum!

Ich-Erzählerin ist die gerade volljährig gewordene Tochter eines Ehepaares, das aus der DDR nach Westdeutschland übergesiedelt war und sich dort zur Zeit des Wirtschaftswunders, verbissen und zielstrebig, ein neues Leben aufgebaut hat. Der Vater ist als Mathematiker in hervorgehobener Position tätig, die Mutter arbeitet als Lehrerin, der Bruder ist wie die Erzählerin noch Schüler. Die Handlung erstreckt sich zeitlich über knapp vier Stunden eines Abends, an dem es Muscheln geben soll, das Lieblingsessen des Vaters. Als der sonst überpünktliche Vater um 18 Uhr noch nicht eingetroffen ist, beginnen die Drei sich zögernd über die ekligen Miesmuscheln zu unterhalten, die außer dem Vater eigentlich niemand richtig mag in der Familie. Je später es wird, desto anklagender werden die Gespräche über den abwesenden Vater und dessen despotisches Gehabe, dem alle devot folgen müssen ohne aufzumucken, der penible Ordnung verlangt und immer das letzte Wort haben muss als Oberhaupt einer richtigen Familie, wie er es immer nennt. Eine inzwischen geöffnete Spätlese löst allen die Zunge, die Anklagen gegen den Vater werden immer drastischer, auch die anfänglich noch zurückhaltende Mutter begehrt zunehmend auf gegen ihren Mann, ob es nun um die Finanzen geht oder das Konzertabonnement, das Urlaubsziel oder das strenge Reglement im Tagesablauf, vor allem aber seine Brutalität bei dem, was er die Erziehung seiner Kinder nennt, die in Wahrheit eher einer Dressur gleichkommt. Am Ende erwähnt die Mutter zum Schrecken der Kinder sogar die mythische Königstochter Medea, «Alle vergiften, und dann ist Ruhe» sagt sie. Als um Viertel vor zehn schließlich das Telefon klingelt, geht die Mutter nicht ran, schüttet die inzwischen schlecht gewordenen Muscheln in den Mülleimer und sagt zum Sohn: «Würdest du bitte den Müll runter tragen». Mit diesem symbolträchtigen Satz endet die Erzählung.

In weiten Teilen wird die Geschichte in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, ohne Absatz und ohne direkte Rede geschrieben, in langen, hypotaktischen Satzkonstruktionen mit einer sehr naiv wirkenden Sprache. Gleichwohl werden damit unterschwellig viele Assoziationen ausgelöst, werden immer wieder wie unbeabsichtigt versuchsballonartig Stichwörter eingeschoben, die im Folgenden dann doch noch ausführlich thematisiert werden. Verdi, um ein Beispiel zu nennen, von dem der Vater jeden Sonntagvormittag eine Platte anhört, wobei er die Kinder zwingt, dabei zu sitzen. Und «wenn dieser Verdi im Wohnzimmer alle war», ist die Mutter aus der Küche gekommen und hat «gleich gelüftet, um den Troubadour rauszulassen», jene, wie sie – schon leicht beschwipst – an diesem Abend erstmals mutig sagt, «akustische Wohnzimmerpest».

Man hat also reichlich Grund zum Schmunzeln, es gibt aber auch genügend Möglichkeiten zu ernsthaften Interpretationen dieser gnadenlos demaskierten Familienidylle, die vor allem das damals gängige, patriarchalische Rollenklischee auf beschämende Weise als Terror und Unterdrückung bloßstellt. Soziologisch gesehen ein Abgesang auf eine gottlob überholte familiäre Rollenverteilung, der mir literarisch als sehr gelungen erscheint, weil hier in einer angenehm leichtfüßigen Form erzählt wird, die ganz ohne Pathos und erhobenen Zeigefinger auskommt. Durch diesen Mix ist die Erzählung sogar für Leute wie mich erfreulich zu lesen, die Miesmuscheln ebenso eklig finden wie diese bedauernswerte Familie, mit der sie zwei bis drei vergnügliche Lesestunden verbringen durften.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das lässt sich ändern

Wenn einem die Welt erst von den Teletubbies, dann von der Maus und schließlich vom Morgenmagazin erklärt wird, ist man drinnen. Adam mit den sechs Geschwistern dagegen war schon immer draußen. Während seine Mutter in der Klapse war, mußte er seine kleine Schwester mit Kinderliedern beruhigen. Später zitiert er ständig Ton Steine Scherben und Die Ärzte und setzt ansonsten ganz auf das Tun. Der Kraft der Sprache mißtraut er, während seine Gefährtin, die Erzählerin, ihren Glauben daran zum Beruf gemacht hat. Sie war immer drinnen und merkt jetzt erst, daß es ein Draußen gibt.
Adam hat goldene Hände und findet immerzu nützliche Sachen, die andere Leute weggeworfen haben, weil sie noch Moderneres, Teureres, Technisierteres haben wollen.
Adam macht sich Sorgen um die Welt. Wenn keiner mehr etwas selbst machen und selbst denken will, was soll aus der Menschheit werden? Seine Kinder sollen das Leben noch anfassen können, und so zieht die Familie aufs Land, weit weg vom Großstadtgetümmel. Mit wenig Geld bauen sie aus einem alten Haus ein neues Heim, helfen dem Bauern Holzapfel aus der Resignation und einer türkischen Familie aus der Bredouille. Dank neuer guter Freunde tauschen, schenken, bekommen und lernen sie jeden Tag Neues, Faszinierendes. Sie entdecken neue Düfte und Geschmäcker und den Genuß guten Essens. Sie schaffen sich ein Zuhause, das viele ersehnen. Doch die unkonventionelle Idylle wird mißtrauisch beäugt von Leuten, die schon immer wußten, wie die Welt sich zu drehen hat. Hier geht es um Grundsätzliches, denn wo käme man denn hin, wenn jeder an seinem eigenen Paradies bastelt?
Adam macht sich Sorgen um die Welt. Seine Kinder sollten alles können und in eine Zeit mitnehmen, in der die Menschheit alles vergessen haben würde, was sie sich seit der Steinzeit mühsam hatte beibringen müssen. Adam würde seine Kinder vor der Komplettverblödung bewahren, die er überall wachsen sieht, weil der Sinn weg ist, „und wenn der Sinn weg ist, kannst du den Verstand gleich hinterherschmeißen.“

Belebend und aufrüttelnd wirkt der kleine Roman von Birgit Vanderbeke, die 1956 in Dahme/Mark geboren wurde und nun seit vielen Jahren in Südfrankreich lebt.
Ohne besserwisserisches Gutmenschentum erzählt die einstige Bachmann-Preisträgerin eine Geschichte vom Menschsein. Weitsichtig schaut sie in die Zukunft und weist unaufdringlich, aber bestimmt darauf hin, daß sich etwas ändern läßt. Wunderbare Sprache, schön lakonisch und gerade deshalb so eindringlich.


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

Ich bin ganz, ganz tot, in vier Wochen

»Dass mir und meinem Schaffen Unterstützung zuteil werde«, wünschte sich Robert Musil in einem Brief an den österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg. Der Schöpfer von »Mann ohne Eigenschaften« stand mit diesem Gesuch durchaus nicht allein. In allen Epochen gab es Not leidende Schriftsteller, die »ihre Fingerköpfe wie Spargelspitzen« fraßen (Else Lasker-Schüler), »kaum noch die Kraft hatten, unter Brücken zu schlafen« (Wolfgang Koeppen) oder sich »in einer sehr armseligen Lage« sahen (Georg Trakl).

Bettel- und Brandbriefe berühmter Schriftsteller bestätigen literarisch das Spitzweg-Gemälde vom armen Poeten, wenn auch die Tonlage der Briefe, so die Herausgeberin, die Notlage der Verfasser nicht immer exakt abbilden. Auf der anderen Seite der um jeden Groschen kämpfenden Literaten finden sich der ständig auf Pump lebende Dichter Baron Detlef von Liliencron, der dem Suff verfallene Joseph Roth, der spielsüchtige Fjodor Dostojewski oder ein Wolfgang Koeppen, der sich Jahrzehnte lang von Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld großzügig alimentieren ließ, ohne jemals die verabredeten Manuskripte zu liefern. Auch sie lebten teilweise von den klingenden Ergebnissen ihrer stürmischen Bittbriefe und Stundungsschreiben.

Ein knurrender Magen erwies sich für viele Autoren oftmals als Antrieb für die teilweise herrlichen Bettelbriefe, die Birgit Vanderbeke gesammelt und heraus gegeben hat. Da finden sich feinsinnig schöne Texte neben entwürdigenden und grausigen Selbstzeugnissen, ironisch-witzige Bittbriefe neben depressiv-peinlichen Jammerschreiben. Die Lektüre des Sammelbandes schenkt eine Menge literarisches Lesevergnügen und zeigt, dass Schriftstellerei unter allen gesellschaftlichen Bedingungen nur für wenige ein auskömmliches Geschäft ist. Der Auswahl förderlich wäre gewesen, jeden Brief konsequent in Kontext zu stellen, wie das in einigen Fällen sehr schön erfolgt ist. In diesem Punkt wäre der Herausgeberin durchgängiges Arbeiten oder die Unterstützung eines Lektors zu empfehlen gewesen. Oder knurrte ihr Magen, und das Buch musste schnell fertig werden?


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Autorenhaus Berlin