Was treibt uns an, wenn wir ein Buch aufschlagen? Mit welcher Intention begeben wir uns in die Gedankenwelt eines Autors? Nun, wir möchten unterhalten werden, neue Welten kennen lernen und andere Blickwinkel erforschen. Manchmal erhoffen wir uns auch Trost und Zuspruch. Möchten erfahren, dass wir nicht alleine sind mit unserer Sicht auf die Dinge. Eine zuverlässige Garantin für die Erfüllung all dieser Wünsche ist mir seit vielen Jahren die amerikanische Schriftstellerin Anne Tyler.
Ganz offiziell stehe ich nicht alleine mit meiner Meinung, dass Anne Tyler zu den wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen gehört. Schon 1989 wurde sie für ihr Buch Atemübungen mit dem Pulitzer-Preis geadelt, noch im letzten Jahr wurde sie für ihr Lebenswerk mit dem Sunday Times Award for Literary Excellence geehrt. Der ebenfalls erfolgreiche britische Schriftsteller Nick Hornby sagte einmal, er wünsche sich, nur einmal in seinem Leben so schreiben zu können wie Anne Tyler. Tatsächlich ist jedes einzelne ihrer bisher 19 erschienenen Bücher ein ganz besonderes Kunstwerk.
Ihr Talent wird oft als stilisierter Realismus bezeichnet, aber das trifft es meiner Meinung nach nicht ganz. Für mich ist Anne Tyler das weibliche Pendant zu John Irving. Sie braucht keine raffinierten Handlungen, das Alltägliche ist ihr bedeutsam genug und so macht sie scheinbare Banalitäten des Lebens zu lesenswerten und fesselnden Geschichten. Sie erzählt unprätentiös und undramatisch, humorvoll und sorgfältig beobachtend. Poetisch und weise vermittelt sie in all ihren Büchern Lebensklugheit und schafft es so, dem Alltag seinen Zauber wiederzugeben.
Ein Musterbeispiel für die tylersche Welt ist der junge Witwer Aaron in Anne Tylers neuestem Roman Abschied für Anfänger. Aaron ist keineswegs perfekt, er lebt mit einer leichten Körperbehinderung, entstanden durch eine Kinderkrankheit. und er stottert oder wie er selbst es ausdrückt: “Er hört sich an wie ein Handy mit Wackelempfang”. Als größte Behinderung empfindet er jedoch nicht seine körperlichen Gebrechen, sondern die fortgesetzten Versuche seines Umfeldes, ihn mit übertriebener Vorsicht über zu behüten. Bei allem Unabhängigkeitsstreben ist Aaron dennoch in den familiären Betrieb eingestiegen, einem Zuschussverlag und empfindet sich mehr als druckender Dienstleister denn als Lektor.
In der älteren Ärztin Dorothy lernt er eine unabhängige Frau kennen, die sich wenig um seine Behinderung schert, was Aaron als ausgesprochen erleichternde Bereicherung seines Lebens empfindet. Sie bemühen sich eine Ehe zu führen und nehmen sich als mal mehr, mal weniger talentiert dazu wahr. Ausgerechnet nach einem belanglosen Streit stürzt ein Baum in ihr Haus, schickt Dorothy in den Tod und Aaron in einen Zustand der trauernden Agonie. Nur in kleinen Momenten, in denen die tote Dorothy “einfach so neben ihm auftaucht,in denen er ein Bewusstsein für ihre Gegenwart entwickelt”, helfen ihm, kurzzeitig zur Ruhe zu kommen.
Neben “dem Sammelsurium von Kriegs- und Lebenserinnerungen, die kein althergebrachter Verlag auch nur eines Blickes würdigen würde “ist Aaron auch Herausgeber einer Serie von Handbüchern für Anfänger. Witwer für Anfänger war leider nicht dabei, also muss Aaron selbst herausfinden, wie das geht: Weiterleben und auch für Anfänger eine Möglichkeit finden, sich zu verabschieden.
Wie viele ihrer Bücher spielt auch dieses in Baltimore, wo die Autorin ihren geerdeten Lebensmittelpunkt hat. Behutsam führt Anne Tyler den Leser in die Gefühlswelt eines ganz normalen Menschen. Eines Menschen mit ganz normalen Gedanken, Gefühlen und Wünschen. Anne Tylers Helden sind selten Genies, manchmal sind sie exzentrisch, aber immer liebenswert. Menschen, mit denen man gerne Zeit verbringt und mit denen man sich über den Moment freut, an dem sie ihr Glück finden. John Irving hat erst kürzlich in einem Interview bestätigt, dass seine Helden durchaus im Laufe der Jahre wiederkehren und sich in seinen Romanen weiter entwickeln, wenn auch unter anderen Namen Dieses Gefühl hat man im Laufe der Romane auch bei Anne Tyler. Ich kannte die überfürsorgliche Schwester Nandina, ich kannte den Bauunternehmer Gil und auch von der Sekretärin Peggy habe ich nicht zum ersten Male etwas gelesen.
Aaron kannte ich nicht, aber ich habe ihn gerne kennengelernt. Seine heraufbeschworenen Visionen, seine Schuldgefühle, seinen Mut zur Wahrheit, seine Selbstgespräche und Dialoge, die gewonnene Einsichten offenbaren: “Früher war ich davon ausgegangen, dass wir beim Sterben herausfinden, worauf das Leben letztendlich hinausgelaufen ist. Ich hatte nicht geahnt, dass man das auch feststellen kann, wenn jemand anders stirbt.” und die ihn schlussendlich zu der einfachen, aber doch so schwer zu erfüllenden Weisheit bringen: “Wichtig ist also im Leben, gut achtzugeben”.. Anne Tyler ist ein emotionales, sehr bewegendes und befriedigendes Buch über Trauer, Verlust und die Wiederherstellung einer kleinen Welt, über Intimität und den Trost von Freundschaft und Familie gelungen.
Abschied für Anfänger ist das zweite Anne-Tyler Buch, dessen deutschsprachige Fassung im ambitionierten Kein & Aber Verlag erschien. Eine ihrer bewährten Übersetzerinnen hat sie dorthin mitgenommen, der Roman wurde von Christine Frick-Gercke sehr sorgsam übersetzt. Es kann nicht einfach sein, in einer Übersetzung den ganz speziellen Anne-Tyler-Tonfall zu treffen, von daher an dieser Stelle ein aufrichtiges Danke dafür.
Fazit: Abschied für Anfänger entwickelt sich zu einem tröstlichen “Weiterleben für Fortgeschrittene” .Uneingeschränkt empfohlen für alle, die Anne Tyler sowieso lieben und ob der Kürze und Prägnanz des Buches auch eine uneingeschränkte Empfehlung für alle, die gerne ein Anne-Tyler-für-Anfänger Buch lesen mögen.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift