Das Haus am Kanal

simenon-2Nicht mal Mittelmaß

Einer der ersten Non-Maigret-Romane ist «Das Haus am Kanal», 1933 erschienen und von seinem Autor Georges Simenon zu den «romans dur» gerechnet, mit denen er höhere literarische Ambitionen verfolgte. Vier Jahre später hat er kleinlaut verkündet: «Ich habe 349 Romane geschrieben, aber alles das zählt nicht. Die Arbeit, die mir wirklich am Herzen liegt, habe ich noch nicht begonnen». Er hat sie nie begonnen, muss ich hinzufügen, und die Literaturkritik blieb weiterhin skeptisch seinem riesigen Œuvre gegenüber. Gleichwohl, mit einer Auflage von etwa 500 Millionen Bänden gehört er zu den erfolgreichsten Schriftstellern weltweit. Im vorliegenden Band, den er rückblickend als seinen ersten «richtigen Roman» bezeichnete, sind geradezu exemplarisch alle seine typischen Stilmittel enthalten.

Die sechzehnjährige Edmée aus Brüssel, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist, kommt nach dem frühen Tod des Vaters als Waise auf den einsam gelegenen Bauernhof des Onkels in Flandern. Kurz vor ihrer Ankunft ist auch der Onkel gestorben, sein 21-jähriger Sohn Fred Van Elst übernimmt den Hof. Sie spricht kein Flämisch und fühlt sich als Großstadtkind fremd in der ungewohnten, ländlichen Umgebung. Das pubertierende Mädchen wird sich schon bald ihrer Wirkung auf Fred und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Jef bewusst, lehnt beide aber als grobschlächtige Bauerntölpel ab. Sie animiert den einfältigen Jef zu Gunstbeweisen ihr gegenüber. Daraufhin stielt Jef für sie vier violette Schmucksteine aus dem Messkelch der Kirche, die sich ironischerweise als unecht herausstellen, bastelt ein Schmuckkästchen für sie, holt ihr sogar die Platinspitze des Blitzableiters vom Kirchturm herunter. Als Fred im Wald versucht, Edmée zu vergewaltigen, taucht plötzlich ein Nachbarjunge auf, den Fred im Handgemenge ungewollt tötet, er vergräbt mit Jef zusammen dessen Leiche – im Beisein von Edmée. Jef kündigt an, er würde Edmée töten, wenn sie Fred heiratet. Der reiche Onkel entdeckt bei einer Prüfung der Bücher, dass Fred regelmäßig Geld unterschlägt, und Edmée spürt ihn bei einem seiner Besuche in der Stadt in einem zwielichtigen Lokal auf, wo er sich augenscheinlich als spendabler Kunde wie zuhause fühlt. Fred, der weiß, dass er den Hof nicht wird halten können, macht Edmée schließlich einen Heiratsantrag, er will mit ihr in die Stadt ziehen, – und sie nimmt an.

Ganz am Ende gibt es dann einen unvermittelten Zeitsprung: Edmée Van Elst wird zwei Jahre später in Antwerpen im Bett erwürgt aufgefunden, sie wurde vergewaltigt. Als Täter wird Jef verhaftet, der auf die Frage des Staatsanwalts, warum er seine Schwägerin ermordet habe, antwortet: «Was hätte ich denn tun sollen?» Mit einem Sprung aus dem Fenster nimmt er sich tags darauf das Leben.

Auch hier geschieht also ein Mord, aber der steht krimi-untypisch ganz am Ende, und der Täter wird sofort überführt. Der Sexualtrieb als Ursache des Bösen, – in bedrückender Atmosphäre nimmt das Unheil seinen Lauf, ausgelöst durch das von Edmée verkörperte Weibliche. Das oft brutale Geschehen wird realistisch karg geschildert, stilistisch völlig uninspiriert. Der benutzte Wortschatz ist sehr begrenzt, die Erzählweise unmotiviert sprunghaft, der Plot auffallend unstrukturiert. Man merkt dem Text nicht nur die Eile eines notorischen Schnellschreibers an, der bis zu 80 Seiten pro Tag «produziert» hat, sondern auch das Fehlen jedweden Lektorats, Simenons Manuskripte gingen, auf seine ausdrückliche Anweisung hin, ohne Überarbeitung in die Druckerei. Ein Roman wie dieser ist dann das Ergebnis, trotz einiger brillanter Ansätze wirkt er völlig unausgegoren. Seine Figuren vermögen keine Empathie zu erzeugen, auf der Suche nach dem Bösen stellt er sie als «nackte Menschen» dar, wie er das mal definiert hat, auf das elementar Triebhafte reduziert. Dieser Roman ist wahrlich kein Kunstwerk, nicht mal Mittelmaß, sondern einfach nur Trivialliteratur, – hat man ihn gelesen, so hat man ihn auch schon vergessen!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Mann, der den Zügen nachsah

simenon-1Geschickt kaschierte Trivialität

Die Literaturwelt kennt viele schillernde Persönlichkeiten unter den Schriftstellern, der belgische Verfasser der Maigret-Romane Georges Simenon gehört in deren erste Reihe. Als Vielschreiber reichte sein literarisches Spektrum vom Groschenroman über Kurzgeschichten und Erzählungen bis zu den erfolgreichen Kriminalromanen, die ihn berühmt und reich gemacht haben. Nicht gelungen ist ihm der Durchbruch zum anspruchsvollen Roman, zum echten literarischen Werk, wie er es selbst einst prophezeit hat: «Wenn ich vierzig bin, werde ich meinen ersten wirklichen Roman veröffentlichen, und wenn ich fünfundvierzig bin, werde ich den Nobelpreis erhalten haben.» Der zu jener Zeit, im Jahre 1938 veröffentlichte Roman «Der Mann, der den Zügen nachsah» war ein vergeblicher Versuch in diese Richtung. Kollegen und Kritiker sprachen von einem «Fall Simenon», dem Autor haftete trotz bewundernswertem Erzähltalent mit seinem riesigen Œuvre zeitlebens der Kolportageverdacht an.

Der vorliegende Krimi ist die psychologische Studie eines Mannes aus dem mittleren Bürgertum, den der betrügerische Konkurs seines Chefs völlig aus der Bahn wirft. Gutsituiert mit standesgemäßer Villa, braver Familienvater und gewissenhafter Prokurist der größten Firma für Schiffsbedarf in Groningen, heißt es im ersten Satz über ihn: «Abends um Acht war Kees Popingas Schicksal noch nicht besiegelt, es wäre also noch nicht zu spät gewesen.» Als das Undenkbare aber Gewissheit wird, entdeckt Kees den treulosen Unternehmer in einer Spelunke und wird von ihm ganz unverblümt über den Bankrott aufgeklärt. Er werde sich heute Nacht noch, einen Selbstmord vortäuschend, ins Ausland absetzen, zum Abschied drückt der Chef Kees ein wenig Bargeld in die Hand. Der beschießt, jetzt auch völlig ruiniert, denn all seine Ersparnisse steckten in der Firma, ebenfalls ein neues Leben zu beginnen, sich aus seinem drögen Alltag zu befreien.

Kees verschwindet klammheimlich Richtung Amsterdam, um dort die Lebedame Pamela aufsuchen, die von seinem Chef ausgehalten wurde. Die aber weist ihn ab, lacht ihn aus, er erwürgt sie daraufhin. Was folgt ist eine odysseeartige Flucht, die ihn nach Paris führt, wo er in der festen Überzeugung, intelligenter zu sein als seine Verfolger, als unauffällige Figur in den Menschenmassen der Metropole untertaucht. Allmählich steigert er sich tiefer in seinen Wahn hinein, die Zeitungsmeldungen, die er begierig liest, bezeichnen ihn als schon Paranoiker. In einem ausführlichen Leserbrief erklärt er sein Motiv: «Vierzig Jahre lang habe ich das Leben betrachtet wie ein armer kleiner Junge, der mit der Nase am Schaufenster einer Konditorei klebt und den anderen zusieht, wie sie Kuchen essen.» Was war mein Leben denn schon wert, fragt er sich, welchen Sinn hatte es? Am Ende lässt Simenon ihn ziemlich theatralisch nackt und ohne jede Habe als Selbstmörder scheitern, er landet in der Psychiatrie.

Die in einfachster Sprache erzählte Geschichte ist mäßig spannend, lässt den Leser aber durch das Stilmittel des inneren Monologs über weite Strecken an den Gedankengängen des als intelligent dargestellten Protagonisten teilhaben. Nüchterne Logik ist für das Handeln des hervorragenden Schachspielers Kees bestimmend, alles bleibt für den Leser nachvollziehbar, sogar beim Zusammenbruch am bitteren Ende. Darin mag für Viele der Reiz dieses Plots liegen, auch wenn das, was erzählt wird, vom Gehalt her im Grunde ziemlich banal ist. Stilistisch aber und damit literarisch im Sinne einer Kunstform ist das Ganze unterste Kategorie, mittelmäßige Kolportage, wie François Bondy schrieb, die wie Simenons gesamtes Werk im Zwielicht bleibe. Und so ist denn auch die Rezeption auffallend zwiespältig. Wer Kniffliges mag, sich lesend von einem Bistro zum anderen begeben und Paris in alle Himmelsrichtungen durchwandern will, der ist hier bestens bedient, literarische Gourmets hingegen werden dieser geschickt kaschierten Trivialität nichts abgewinnen können.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Mann, der den Zügen nachsah

Kees Popinga, ein braver Prokurist und untadeliger Familienvater, erfährt vom betrügerischen Konkurs des Seehandelsunternehmens, dem er sein bisheriges Leben gewidmet hat. Über Nacht bricht seine Existenz vollständig in sich zusammen. Das, woran er bislang glaubte, gerät ins Schwanken. Er flieht in einem Zug nach Amsterdam und weiter nach Paris, wo er versucht, sich eine neue Identität aufzubauen. Dabei gerät er in die Halbwelt. Polizei und Presse setzen ihm nach, denen er sich nahezu zwanghaft schriftlich erklären möchte. Wie in einem guten Schachspiel bewegen sich die Parteien damit Zug um Zug aufeinander zu. Doch kann Popinga die Partie gewinnen?

Simenon, der Erfinder des „Kommissar Maigret“ schuf mit diesem Roman eine kunstvoll gebaute Erzählung mit psychologischem Hintergrund.


Genre: Romane
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München