Mein drittes Leben

Trauer ohne Larmoyanz

Der vierte Roman der Schriftstellerin Daniela Krien mit dem Titel «Mein drittes Leben» behandelt nicht weniger als die Vergänglichkeit des Menschen und seine oft vergebliche Suche nach Glück. Er gehört zu dem heiklen Genre der Trauer-Romane, ohne aber ganz in Pathos zu versinken, wie das bei dieser Thematik allzu häufig der Fall ist. Seit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2024 gilt dem Roman erhöhte Aufmerksamkeit, die Besprechungen in den Feuilletons und die Bewertungen in der Leserschaft sind durchweg positiv. Und tatsächlich: Die Lektüre lohnt sich in jeder Hinsicht

«Heute Morgen kam ein Bussard vom Himmel geschossen und stürzte sich auf eine meiner jungen Hennen», lautet der erste Satz. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Linda hat sich einen komplett eingerichteten Dreiseit-Bauernhof samt Tieren gemietet. Ein bewusst gewählter Rückzugsort in einem gottverlassenen, sächsischen Straßendorf, wo sie ihre grenzenlose, zerstörerische Trauer über den Tod ihrer siebzehnjährigen Tochter zu bewältigen sucht. Sie war als gutbezahlte Kuratorin für eine große Kunststiftung tätig, ihr Mann ist einer jener Kategorie Kunstmaler, denen der ganz große Erfolg versagt geblieben ist. Sie lebten beide glücklich und zufrieden mit ihrer 17jährigen Tochter in einer luxuriösen Eigentumswohnung in Leipzig. Bis Sonja bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Für Linda eine Zäsur, sie kündigt ihre Stellung und ergreift die sich zufällig ergebende Möglichkeit, den bescheidenen Bauerhof in einer ländlichen Einöde für sich zu mieten. Ihr Mann ist entsetzt, er glaubt an eine vorübergehende Laune und fragt sie immer wieder, wann sie zurückkommt nach Leipzig.

Aber Linda kann die mit ihrer Trauer verbundene Hoffnungslosigkeit nicht überwinden. Sie hat schon mal eine Krebserkrankung überstanden, hat glücklicher Weise aber damals wieder ins normale Leben zurückgefunden. Der Tod ihres einzigen Kindes hat sie nun in tiefste Depressionen gestürzt, zu denen auch Suizidgedanken gehören. Durch die ungewohnte, harte Arbeit auf dem Hof lenkt sie sich von diesen düsteren Gedanken ab, lebt selbstvergessen ein einsames, ländliches Leben. Ihre junge Henne übrigens hat sie gerettet, hat sie dem Bussard beherzt entrissen, ein kleiner Triumph für sie! Nach und nach lernt sie dann auch Leute kennen. Ihr Nachbar besorgt ihr das Brennholz für den Winter, sie freundet sich mit der Mutter einer autistischen Tochter an, geht sogar mal zum Dorffest mit, sie beginnt also ihr «drittes Leben». Und da passt ihre beste Freundin, die sich einen reichen Mann geangelt hat, absolut nicht mehr hinein, weil sie in einer Welt lebt, die Linda regelrecht abstößt mit ihrer unersättlichen Konsumgier. Lindas Mann hat sich inzwischen eine Freundin gesucht, meldet sich trotzdem aber immer wieder mal bei ihr mit der Frage, «wann kommst du zurück», aber er erhält nie eine Antwort.

Erfreulich bei einer so unerfreulichen Thematik ist es, dass die Autorin mit psychologischem Sachverstand so ganz ohne Larmoyanz auskommt, also nicht auf die Tränendrüsen drückt, und dass ganz selten nur auch ein wenig Pathos mitschwingt. Die in vielen Rückblenden erzählte Geschichte ist stilistisch geradezu brillant in eine wortmächtige Sprache umgesetzt, die das Lesen zum puren Vergnügen werden lässt. Der straff gegliederte Plot des zweiteiligen Romans steuert zielstrebig auf ein überraschendes Ende zu, das dem Genre gerecht werdend kein Happy End ist, auch wenn zumindest doch ein klein wenig Hoffnung aufkeimt. Die ausführlichen, sich fatal ähnelnden Szenen der verzweifelten, schier endlosen Trauerarbeit erweisen sich als ein geringfügiges Manko, welches aber durch gelegentlich ganz versteckt auftretenden Humor (sic!) im Sprachlichen mehr als ausgeglichen wird.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Die Poesie der irrsinnigen Liebe
Daniela Krien erzählt in ihrem Romandebüt von einer Liebesgewalt zur Wendezeit.
Wir schreiben das Jahr 1990, ein heißer Sommer irgendwo im Osten. Die DDR ist Vergangenheit, die Vereinigung steht kurz bevor. Die Ich-Erzählerin Maria ist sechzehn und wohnt mit Johannes auf dem Bauernhof seiner Eltern, dem Brendel-Hof. Sie schwänzt die Schule und verkriecht sich lieber mit den „Brüdern Karamasow“ in ihr Spinnenzimmer. Gleichzeitig möchte sie von Johannes‘ Familie angenommen werden, schaut ihnen zunächst dabei zu, wie sie Vieh, Haus und Hof bewirtschaften, Gemüse anbauen, in der Küche schaffen und bringt sich zunehmend helfend im Hofalltag ein.

Auf dem benachbarten Hof lebt der vierzigjährige Henner allein. Ein komischer Kauz, den die Leute aus dem Dorf misstrauisch beargwöhnen, weil er trinkt, manchmal in die Stadt fährt und Bücher liest. Die unbeschwerte Landidylle ändert sich schlagartig, als Henner und Maria, die sich gegenseitig magisch anziehen, in einem wollüstigen Gewaltakt das erste Mal übereinander herfallen. Während ihr nichtsahnender Freund Johannes die Welt fast nur noch durch den Sucher seiner neuen analogen Kamera sieht und davon träumt, an der Kunstakademie Fotografie zu studieren lebt Maria ihre erotische Obsession zu dem viel älteren Henner mit einer Wucht der Leidenschaft aus, in der Lust und Schmerz nahe beieinander liegen. Immer mehr wird sie von der Macht des schieren Begehrens nach der Liebesgewalt beherrscht, die nur Henner ihr geben kann. „Sein Wollen hatte etwas Tierisches, Unberechenbares, etwas, das mich an Dinge erinnerte, die lange vor meiner Zeit Geschehen sind.“ Da steuern Zwei auf ihr unentrinnbares Schicksal zu, das aufgrund des libidinösen Wahnsinns beider eigentlich nur in der Katastrophe enden kann. Heimlich still und leise wird zudem in Rückblenden mehr und mehr Henners Vergangenheit deutlich, die ihn zu dem gebrochenen Menschen gemacht haben, der er ist. Was die beiden außerdem verbindet, ist ihre Liebe zur Literatur, die in ihrer intellektuellen Haltung jedoch der Körperlichkeit nachgeordnet ist.

Die heimlichen Treffen mit Henner wechseln sich ab mit Szenen, die poetisch einen Mikrokosmos des Landlebens im Osten ausbreiten. Die Beschreibung des Dorfes und der Höfe, der Räume darin, sowie des Mobiliars, dem alten Küchenofen, dem großen Esstisch und dem wuchtigen Küchenbuffet atmen die Nostalgie einer stehengebliebenen Zeit. Das ursprüngliche Kochen auf dem Hof, das Maria sich selbst mehr und mehr aneignet und detailliert beschreibt, sowie ausgedehnte Szenen der gemeinsamen Mahlzeiten bis zu Momentaufnahmen der Bewirtschaftung des Brendel-Hofs spiegeln dabei den Rhythmus des Landlebens im Osten, das auf eine wunderbare Art und Weise antiquiert wirkt, so dass man sich als Leser fragt, ob die Figuren des Romans sich eigentlich darüber im Klaren sind, was sie durch die Vereinigung verlieren. Johannes‘ Eltern sind pragmatische, anpackende Menschen, die sich eher Gedanken darüber machen, wie sie ihren Hof umstrukturieren können, um im neu gewonnenen Kapitalismus als biodynamischer Demeterhof zu überleben. Was sie an Freiheit gewinnen wird durch den Knecht des Brendel-Hofs Alfred deutlich, der Maria bespitzelt und eine Atmosphäre diffuser Furcht schafft. Ein Verweis auf die Stasi in der DDR, mit deren Existenz auch Henners Schicksal eng zusammenhängt.

Sprachlich amorph und in einer auf das Wesentlich reduzierten Sprache, wird die antiquierte bäuerliche Welt zum Greifen nah spürbar, die Gerüche erlebbar und die Landschaft mit Dörfern, Höfen, Maisfeldern, Weiden und Wäldern vor dem inneren Auge des Lesers sichtbar. Maria wird meist distanziert in der dritten Person von den anderen Familienmitgliedern angesprochen. Die Zusammenkünfte der beiden Liebenden werden nie explizit geschildert, sondern behutsam und zart angedeutet. Die Triebhaftigkeit ihrer Wollust kippt deshalb nie ins obszön-vulgäre sondern bleibt auf einer Ebene poetischer Sanftheit, die erotische Obsession wirkt so sinnlich, dass einem dagegen Johannes in seiner langweiligen Sexualität leid tut.

Das tragische Ende der Liaison begründet Krien im Gespräch: „Die Obsession ihrer Leidenschaft sollte und konnte nicht ins Alltägliche übergehen. Sie treffen sich auf eine absolute, eine kräftezehrende und auch zerstörerische Weise, wie sie höchstens einmal im Leben vorkommt und wie kein Mensch sie über längere Zeit aushalten würde.“ In dem Moment, in dem Maria dazu bereit ist, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen und dauerhaft mit Henner zu leben, erkennt der genau dieses Dilemma und handelt konsequent bis zum bitteren Ende..

Die 1975 geborene Daniela Krien legt mit „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ein fulminantes Romandebüt vor, dessen Thema der amour fou durch ihre kraftvolle und zärtliche Sprache für den Leser sinnlich erlebbar wird, der Mikrokosmos des Landlebens vibrierend spürbar. An einer Stelle resümiert Maria die Zeit mit Henner: „Noch nie habe ich so wenig gebraucht und so sehr mir selbst genügt wie an den Tagen mit ihm. Essen, schlafen, lieben, lesen, arbeiten. Mehr ist es nicht. Und es ist doch alles.“
Zum Lesen wünscht man ihr viele weitere Romane von Daniela Krien.


Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Sommer 1990 in der DDR.Der letzte Sommer in einem Land, welches bald keines mehr sein wird. Maria wird bald siebzehn. Sie wohnt mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern nahe der deutsch-deutschen Grenze, die bald keine mehr sein wird. Maria ist ein zartes verträumtes Mädchen. Zwar beteiligt sie sich tatkräftig an der Hofarbeit, verweigert jedoch die Schule. Ihr Liebstes sind zu dieser Zeit die Gebrüder Karamasov, deren Fragen nach Schuld und Sühne, Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München